US-Streumunition in der Ukraine: Doppelmoral des Westens?

Stand: 25.07.2024 21:40 Uhr

Von den USA in die Ukraine gelieferte Streumunition könnte auch aus Lagern in Deutschland stammen. Schon vor den US-Lieferungen hat die Ukraine laut UN womöglich Streumunition in bewohntem Gebiet eingesetzt - es gab Verletzte.

von Lisa Hagen, Mariam Noori, John Goetz

Im Mai, nahe Mariinka, rund zehn Kilometer vor den russischen Truppen. Ein Soldat der ukrainischen 33. Brigade führt in ein Versteck. Dort lagert etwas, das die Welt spaltet: Dutzende graue Munition, aufrecht in einer Ecke des provisorischen Bunkers. Es ist Streumunition - international geächtet und in 112 Staaten verboten. Auch in Deutschland. Die USA und die Ukraine haben das Abkommen nie unterzeichnet.

Soldaten der 33. Brigade der ukrainischen Armee. © NDR
Soldaten der 33. Brigade der ukrainischen Armee bei einer Zigarettenpause, etwa zehn Kilometer von der Front entfernt.

Streumunition kann wie hier an der Ukraine vom Boden oder aus der Luft eingesetzt werden. Wenn sie in der Luft ist, öffnet sich die äußere Kapsel und setzt Dutzende kleine Bomblets frei, die sogenannte Submunition. Diese streut wahllos und über eine große Fläche. Die Gefahr Zivilisten zu treffen, ist daher größer als bei anderen Munitionsarten.

"Der Feind hat große Angst vor der Streumunition", erklärt der Soldat Vasyl. "Die Russen kamen zu uns, in unser Haus, auf unsere Erde. Und beschießen uns mit allem, was geht", sagt der Soldat Mykhailo. "Warum sollten wir nicht auch zurückschlagen dürfen?"

Weder die USA noch die Ukraine haben das sogenannte Oslo-Abkommen, ein Vertrag zum Verbot von Streumunition, unterschrieben. Sie sind daher nicht an die völkerrechtlichen Verpflichtungen gebunden.

US-Streumunition in Deutschland

Was sie hier abfeuern, ist Streumunition vom US-Typ M864 und M483A1. Geliefert haben sie die USA, doch nach Recherchen des ARD-Magazin Panorama und STRG_F kommen diese Geschosse möglicherweise aus US-Depots in Deutschland und wurden über deutsche Autobahnen transportiert.

Ukraine verspricht verantwortungsvolle Nutzung der US-Streumunition

Ukrainischer Soldat in einem Geschütz, kurz vor dem Abfeuern einer Streumunition-Granate. © NDR
Ein ukrainischer Soldat bereitet den Abschuss von US-Streumunition vor.

Mittlerweile scheint niemand mehr Zweifel an der Richtigkeit der Lieferung der geächteten Waffe zu haben. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2024 erklärte der ehemalige NATO-Generalsekretär Rasmussen, Krieg sei eben grausam, "aber wenn wir den Ukrainern keine Streumunition geben, verschaffen wir den Russen ungewollt einen Vorteil." Auch Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew, rechtfertigte den Einsatz von Streumunition durch die Ukraine so: "Vergesst nicht: Wir verteidigen Europa, wir verteidigen euch alle!"

Außerdem versprach die Ukraine, die geächtete Streumunition verantwortungsvoll zu nutzen. Sie schieße nicht auf zivile Ziele und dokumentiere alle Abschüsse. Ein Sprecher der ukrainischen Streitkräfte erklärt gegenüber Panorama und STRG_F auf Anfrage, dass die Ukraine Buch über den Einsatz von Streumunition führe, es würden Karten über kontaminierte Gebiete erstellt und öffentlich zugänglich gemacht:

"Anders als die Russische Föderation setzen die ukrainischen Streitkräfte Streumunition innerhalb der international anerkannten Grenzen der Ukraine, unter strikter Einhaltung des humanitären Völkerrechts und ausschließlich zur Zerstörung russischer militärischer Ziele, die außerhalb dicht besiedelter Gebiete liegen, um Schaden für die Zivilbevölkerung zu vermeiden."

Panorama sind keine Fälle bekannt, dass ukrainische Streitkräfte Zivilisten mit der amerikanischen Streumunition getroffen haben.

HRW: Ukraine soll sowjetische Streumunition in Isjum eingesetzt haben

Russland hat in diesem Krieg massiv Streumunition eingesetzt. Es soll aber auch Fälle von Einsatz von Streumunition durch die Ukraine geben, auch schon vor der den US-Lieferungen. Laut Human Rights Watch auch 2022 in der ostukrainischen Stadt Isjum, südöstlich von Charkiw.

Splitterschäden an einer Hauswand in Isjum, die von Streumunition stammen sollen. Im Jahr 2022 soll die Ukraine hier sowjetische Streumunition eingesetzt haben. © NDR
Splitterschäden an einer Hauswand in Isjum, die von Streumunition stammen sollen. Im Jahr 2022 soll die Ukraine hier sowjetische Streumunition eingesetzt haben.

In Isjum wurde heftig gekämpft, im März 2022 nahmen russische Truppen die Stadt ein. Sechs Monate lang war die Stadt besetzt, bis im September 2022 ukrainische Truppen Isjum zurückeroberten. Die UN sagt, dass ukrainische Truppen Streumunition in Isjum verwendet haben sollen. Im Juli 2023 bestätigten Untersuchungen von Human Rights Watch, dass dabei Zivilisten getroffen wurden. 

Verletzte berichten von Angriff

Natasha, die 2022 im ostukrainischen Isjum von Streumunition verletzt wurde und seitdem auf Krücken geht. © NDR
Natasha ist seit dem Angriff 2022 auf Krücken angewiesen.

Panorama und STRG_F  fuhren im Winter 2023 nach Isjum, um sich selbst ein Bild zu machen und sprachen mit Betroffenen von Angriffen mit Streumunition. Dort leben Olha und Natasha, die bei dem Angriff schwer verletzt verletzt wurden. Natasha geht seitdem auf Krücken. Olha erzählt: "Da hat es geknallt. Es kam mir vor, als wäre das Haus auf mich eingestürzt. Mein Kopf wurde getroffen. Ich lag da. Blut strömte hier runter. Ich merkte nicht einmal, wie mein Bein verletzt war. Dann wurde ich ohnmächtig."

Sie zeigt die Spuren des Angriffs, viele kleine Einschüsse. Wenn Submunition explodiert, werden gefährliche Splitter frei. Sie wirken tatsächlich wie Pistolenkugeln und können sogar Metall durchbohren. Bei Menschen verursachen sie schlimme Verletzungen. Natasha wurde von großen Fragmenten an den Beinen getroffen: "Weißt du, ich saß hier so. Meine Beine wurden zerfetzt. Der Knochen ist zwar nicht ganz durchgebrochen, aber ich wurde stark verletzt."

Schäden in einer Häuserwand im ostukrainischen Isjum, die von Streumunition stammen sollen. © NDR
Schäden in einer Häuserwand, die von Bomblets der sowjetischen Streumunition stammen sollen.

Die Wohngegend ist dicht besiedelt, in der Nähe ein Kindergarten. Auch Kinder sollen hier durch Streumunition verletzt worden sein. Ein Vater war hier gerade mit seinen Kindern im Hof, als ein Angriff kam. "Ich habe es geschafft, das Kind noch ins Haus zu werfen", erzählt er. Kleinere Splittern trafen die Jungs. Die Mutter erzählt: "Der eine wurde hier an der Wange getroffen. In die Schulter und die Stirn." Und der Vater sagt: "Es waren die Russen. Soweit ich weiß, hat unsere Armee keine Streumunition. Das sind die verdammten Russen untereinander gewesen, denke ich." Die Bewohner können sich nicht vorstellen, dass die Ukraine sie beschossen hat.

Wer hat geschossen?

Wer es tatsächlich war, ist gar nicht so einfach zu sagen. Streumunition aus der Sowjetzeit haben beide Seiten. Aber die Ermittler von Human Rights Watch haben Indizien, dass einige hier von den Ukrainern abgefeuert wurden. Der Angriff, von dem auch Olha und Natasha betroffen waren, ereignete sich etwa 300 Meter von einer Schule, die russische Truppen von März bis Juli 2022 besetzt hatten. Ukrainische Truppen befanden sich in unmittelbarer Nähe. Nach Analyse der Positionen der Munitionsfragmente schlussfolgern die Ermittler, dass die Streumunition aus der Richtung ukrainischer Stellungen abgeschossen wurde. Möglicherweise war die Schule das eigentliche Ziel, denn dort hatten sich Russen positioniert. Die Bewohner gerieten wahrscheinlich zwischen die Fronten. 

Die ukrainische Seite bestreitet das bis heute. Auf Anfrage verweist ein Sprecher auf ein Schreiben des Generalstabs der ukrainischen Streitkräfte an Human Rights Watch vom Juni 2023, in dem es heißt, "dass Streumunition auf die Stadt Isjum und ihre Umgebung, während die Stadt im Jahr 2022 unter russischer Besatzung stand, nicht eingesetzt wurde." 

USA müssen vom Einsatz gewusst haben

Seit 2014 gibt es Berichte über den Einsatz von sowjetischer Streumunition in der Ost-Ukraine. Hauptsächlich durch Russland, aber in einigen Fällen auch durch die Ukraine. Für 2022 sehen sowohl die UN als auch Human Rights Watch den Einsatz von Streumunition durch die Ukraine in Isjum als nachgewiesen. Die US-Regierung musste die Berichte aus Isjum kennen - und hat trotzdem geliefert. Amerikanische Streumunition, die in Deutschland gelagert und wahrscheinlich von Miesau in den Ukraine-Krieg transportiert wurde.

 

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Das Erste | Panorama | 25.07.2024 | 21:45 Uhr

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