Steve Meiling: Anatomie eines Kriegsverbrechens

Stand: 29.02.2024 11:44 Uhr

Kurz nach Kriegsbeginn versucht ein Deutscher, seine Frau aus Kiew zu retten. Er wird von russischen Einheiten angeschossen. Der Generalbundesanwalt ermittelt wegen Kriegsverbrechen. NDR und WDR konnten mit einem Tatverdächtigen sprechen.

von von Florian Flade, Volkmar Kabisch, Antonius Kempmann, Marlene Obst, Sebastian Pittelkow, Taras Lazer, NDR/WDR

Am 24. Februar 2022 hat Steve Meiling im sächsischen Borna gerade Nachtschicht, als er die ersten Nachrichten auf seinem Handy erhält: Russlands Angriff auf die Ukraine hat begonnen und die ersten Raketen schlagen in Kiew ein. Erst wenige Wochen zuvor hatte Meiling die Ukrainerin Anna geheiratet. Jetzt sitzt sie mit ihrem Sohn in Kiew fest. Der Feuerwehrmann aus Sachsen zögert nicht lange. Mit dem Auto macht er sich auf den Weg in die ukrainische Hauptstadt, um sie zu retten.

Steve Meilings Auto © NDR
Steve Meilings Auto im Straßengraben nach dem Beschuss.

Am Ende bezahlt Meiling diese Entscheidung fast mit seinem Leben: Etwa 28 Kilometer vor Kiew, in der Nähe des Ortes Hostomel, gerät er in einen Hinterhalt und wird durch ein Geschoß schwer am Kopf verletzt. Der Deutsche ist offenbar eines der ersten Opfer einer russischen Einheit geworden, die sich an diesem Morgen entlang der Straße postiert hat und wohl stundenlang auf vorbeifahrende Autos schießt. Am Ende sind fünf Zivilisten tot und mindestens sieben verletzt.

Die Ereignisse vom 25. Februar 2022 werden derzeit vor einem ukrainischen Gericht in der Stadt Irpin verhandelt. Mehrere Angehörige der russischen Nationalgarde sind in Abwesenheit angeklagt, Zivilisten getötet und Kriegsverbrechen begangen zu haben. Doch nicht nur die ukrainische Justiz beschäftigt sich mit den Schüssen in Hostomel. In Deutschland ermittelt das Bundeskriminalamt (BKA) im Auftrag des Generalbundesanwalts seit mehreren Monaten in dem Fall. Es ist das erste personenbezogene Strafverfahren in Deutschland zu Kriegsverbrechen in der Ukraine. 

 

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Ein Kriegsverbrechen vor laufender Kamera

Bilder Überwachungskamera Steve Meiling © NDR
Bilder der Überwachungskamera, die den Verdächtigen Nikita G. zeigen sollen.

Was den Ermittlern bei der Analyse des Falles in Hostomel hilft, ist eine Fülle von Aufnahmen aus Überwachungskameras, die das Geschehen dokumentiert haben. Sie zeigen bewaffnete Männer - augenscheinlich Soldaten - einige blicken sogar direkt in die Kamera. Wahrscheinlich haben sie keine Ahnung, dass die Aufnahmen später als Beweismittel gegen sie verwendet werden könnten. Es sind die ersten Tage des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Trotz des unerwarteten Widerstands der ukrainischen Streitkräfte wähnen sich Moskaus Truppen wohl noch siegessicher.

Viele ukrainische Zivilisten versuchen zu diesem Zeitpunkt, aus den Vororten der Hauptstadt zu fliehen - hauptsächlich mit dem Auto. Russische Einheiten belagern am Morgen des 25. Februar die Zufahrtsstraße nach Kiew, positionieren sich in einem Waldgebiet und an einer Kreuzung hinter einem Supermarkt. Von dort aus sollen sie stundenlang auf zivile Autos geschossen haben - das erste ist wohl der weiße Skoda Fabia von Steve Meiling.

 

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Plötzlich unter Beschuss

Erst sei ein Geschoss neben seinem Fahrzeug eingeschlagen, dann habe er gespürt, wie er etwas an den Kopf bekommen habe, erinnert sich Meiling heute. "Dann bin ich mit dem Auto in den Straßengraben, weil mir das ganze Blut über das Gesicht lief". Er habe alles nur noch verschwommen und wie in Zeitlupe wahrgenommen, habe zeitweise gedacht "Hauptsache, es geht schnell zu Ende".

Bilder Überwachungskamera Steve Meiling © NDR
Die Überwachungskamera zeigt den verletzten Steve Meiling.

Meiling überlebt den Angriff schwer verletzt. Von Geschosssplittern getroffen, rettet er sich in ein nahegelegenes Dorf und gelangt von dort in ein Krankenhaus. Im Krankenhaus kann er notdürftig operiert und versorgt werden. Nach einigen Tagen muss Meiling auch von dort fliehen, weil russische Truppen darauf zu rücken. Seiner Frau gelingt es derweil, Kiew zu verlassen. Sie treffen sich in der Stadt Vinnytsia wieder und reisen von dort in Richtung der polnischen Grenze weiter, so schildert es Meiling gegenüber den Reportern. 

Heute, rund zwei Jahre später, lebt das Ehepaar gemeinsam in Borna. In Meilings Körper sollen sich noch immer rund 300 Splitter befinden. "Die Narben werden nicht komplett verschwinden", so Meiling. Häufig plagen ihn starke Kopfschmerzen. 

Meiling plant, womöglich in den kommenden Monaten als Zeuge in dem ukrainischen Prozess in Irpin auszusagen. Bei den deutschen Ermittlungen tritt er als Nebenkläger auf. Gerechtigkeit sei für ihn, wenn die Leute, die Kriegsverbrechen begangen hätten, ihre Strafe bekämen - "und dabei geht es ja nicht nur um mich", sagt Meiling.

 

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Die mutmaßlichen Täter

Bilder Überwachungskamera Steve Meiling © NDR
Auf dem Bild dieser Überwachungskamera soll Sergey K. zu sehen sein.

Bislang konnten Ermittler drei Kommandeure und zwei Soldaten als Tatverdächtige identifizieren. Es handelt sich um Angehörige einer speziellen Einheit der russischen Nationalgarde - auch OMON genannt. Die fünf Männer sind in Krasnojarsk in Sibirien stationiert, rund 3.400 Kilometer östlich von Moskau.

Der ranghöchste Verdächtige ist Sergey K., seit 2005 Kommandeur dieser OMON-Einheit. K. ist ein OMON-Veteran; Zeitungsberichten zufolge war er während des Tschetschenienkriegs in den 1990er Jahren an den Kämpfen in Grosny beteiligt. Er ist ein Aushängeschild der Truppe - hält Vorträge und besucht Schulen.

Ein weiterer Verdächtiger ist Nikita G. Der 30-jährige Russe soll mehrfach auf den Aufnahmen der Überwachungskamera aus Hostomel zu sehen sein - auch mit Waffe im Anschlag. Manchmal blickt er sogar direkt in die Kamera. Im Internet kursieren Bilder, die ihn in der Uniform der Nationalgarde zeigen.

Bilder Überwachungskamera Steve Meiling © NDR
Das Bild dieser Überwachungskamera soll Nikita G. zeigen.

NDR und WDR haben Nikita G. ausfindig gemacht, seine Kontaktdaten recherchiert und angerufen. "Wo haben Sie die Nummer her?", fragte er am Telefon. Er bestreitet nicht, dass er mit seiner Einheit am 25.02. an der Shevshenka-Straße postiert war. Auf die Frage, was er zu den Ermittlungen wegen der mutmaßlichen Kriegsverbrechen im ukrainischen Hostomel sage, antwortet er: "Das ist Blödsinn. (…) Was ich davon halte, ist rein meine persönliche Angelegenheit (…) Sie werden sowieso lügen und schreiben darüber so, wie Sie es brauchen. Das wissen wir schon."

Die russische Botschaft in Berlin will sich zu den Ermittlungen nicht äußern. Von dort heißt es nur knapp, der Botschaft lägen "hierzu keine Informationen vor."

Bislang keine deutschen Haftbefehle

Die deutschen Strafverfolger haben Steve Meiling zu seinen Erlebnissen in Hostomel befragt, sie stehen zudem im Austausch mit den ukrainischen Behörden und haben Beweismittel, darunter die Videoaufnahmen der Überwachungskameras und Fotos in sozialen Netzwerken, ausgewertet. Deutsche Haftbefehle gegen die mutmaßlichen Kriegsverbrecher gibt es jedoch bislang noch nicht.

 

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Das Erste | Panorama | 29.02.2024 | 21:45 Uhr

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