Steve Meiling: Anatomie eines Kriegsverbrechens (Manuskript)
Panorama v. 29.02.2024
Anmoderation Anja Reschke: "Frieden! Tausende gehen dafür auf die Straße. Fordern ein Ende des Kriegs in der Ukraine. Wer wünschte das nicht, dass das Sterben und Morden einfach aufhören würde. Und natürlich fühlt man sich moralisch auf der richtigen Seite, wenn man Diplomatie und Verhandlungen fordert, statt Waffen und Soldaten. Nur, ist das nicht eine Form der Verdrängung? Blendet man damit nicht aus, was da wirklich geschehen ist und täglich geschieht? Wer wen überfallen hat? Wer auf seine Freiheit, seine Unversehrtheit verzichten muss? Wer Täter und wer Opfer ist? Steve Meiling kann das nicht ausblenden. Er hat jeden Tag damit zu kämpfen. Ein Mann aus Borna in Sachsen, der am eigenen Leib erfahren musste, wie brutal, gewissenlos die russische Armee vorgeht. Antonius Kempmann, Sebastian Pittelkow und Marlene Obst."
Steve Meiling ist Feuerwehrmann und lebt in Borna in Sachsen. Der Morgen des 24. Februar 2022 beginnt für ihn wie jeder andere. Bis er das erste Mal auf sein Handy schaut:
O-Ton Steve Meiling: "Am 24.2., als ich auf Arbeit, worauf Nachtschicht und ich dann früh 4:30 mitbekommen habe, dass die erste Rakete in Kiew rein ist und wo ich meinen Entschluss gefasst habe. Ich fahre meine Frau holen."
Anna. Meiling hat die Ukrainerin gerade erst geheiratet. Sie ist noch in Kyiv, absolviert einen Deutschkurs. Er will sie aus dem Kriegsgebiet retten.
O-Ton Steve Meiling: "Ja, man ist sich dem Risiko bewusst. Aber man rechnet ja trotzdem nicht damit, dass wo man jetzt denkt: Ja, klar, wird schon gut gehen. Ist jetzt Kriegsgebiet. Rein, Frau holen, wieder raus, fertig."
Meiling setzt sich ins Auto. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Wer ist zuerst in Kyiv? Meiling oder die russischen Truppen? Am nächsten Morgen erreicht er Hostomel – vor den Toren der Stadt. Dass die Russen schon da sind - ahnt er nicht. Gerade waren sie bei ihrem Vorstoß auf Kyiv gescheitert, jetzt gruppieren sie sich neu.
O-Ton Steve Meiling: "Ich hatte vor mir zwei Fahrzeuge, die dann links und rechts an mir vorbeigefahren sind rückwärts. Und in dem Moment, als ich selber umlenken wollte, hatte ich schon gemerkt, dass ich was an den Kopf gekriegt habe."
Aus dem Schutz eines kleinen Waldstücks schießen die Soldaten offenbar auf alles, was sich bewegt, auch auf zivile Fahrzeuge. Überwachungskameras eines Supermarktes dokumentieren das mutmaßliche Kriegsverbrechen: Auch das Auto von Meiling wird zum Ziel. Er selbst wird am Kopf getroffen.
O-Ton Steve Meiling: "Ja dann bin ich mit dem Auto in den Straßengraben, weil, das ganze Blut lief über das Gesicht. Und man weiß ja erst mal nicht, was ist überhaupt los. Und ich kannte die Situation nicht, ich hatte noch nie dieses Gefühl, dieses alles in Zeitlupe wahrnehmen, ganz weit weg. Und dann bin ich in das Wohngebiet abgehauen, das dort in der Nähe war."
Meiling läuft um sein Leben. Am Kopf schwer verletzt. Währenddessen schießen russische Soldaten weiter auf Zivilisten. Fünf Menschen sterben allein hier an diesem Tag, acht Menschen werden teils schwer verletzt. Meiling ist einer von ihnen. Er wird ins Krankenhaus gebracht. In seinem Kopf stecken Geschoss-Splitter. Die Ärzte kämpfen um sein Leben.
O-Ton Mykola Verbelchuk, Arzt: "Er klagte über das Gefühl von Fremdkörpern im Kopf. Ich ihn untersucht und Metallfragmente herausoperiert."
Aber einige Metallsplitter lassen sich nicht entfernen, bleiben im Kopf. Der Krieg rückt näher ans Krankenhaus, Meiling muss wieder fliehen. Außerhalb von Kyiv trifft er endlich seine Frau wieder. Sie hatte es in einen rettenden Bus aus der belagerten Stadt geschafft.
O-Ton Steve Meiling: "Ja, es ist Freudentränen. Das ist.... Es fällt eine riesen Last von einem, weil diese Ungewissheit einfach weg ist. Aber es gab ja Tage im Krankenhaus. Man wusste nicht, was ist mit ihr etc."
Meiling und seine Frau sind jetzt in Deutschland - in Sicherheit. Doch Etwa 300 Splitterfragmente stecken noch in seinem Körper. Ständig hat er heftige Kopfschmerzen.
O-Ton Steve Meiling: "Tendenz ist eigentlich dahingehend, dass es gefühlt schlimmer geworden ist. Ja und wie sich das ganze entwickelt hat, werden die Ärzte keine Aussage drüber treffen. Ja, ich muss damit leben."
In der Ukraine läuft aktuell ein Strafverfahren gegen die beteiligten russischen Soldaten. Steve Meiling ist als Zeuge geladen. Die Anklage: Kriegsverbrechen. Warum schossen die Russen auf harmlose Zivilisten? Staatsanwalt Dmytro Sitar kann nur mutmaßen:
O-Ton Dmytro Sitar, Staatsanwaltschaft Kiew: "Ich glaube sie konnten nicht nach Kyiv einmarschieren, so wie sie gehofft hatten und dort Positionen beziehen. Deshalb wollten sie einfach Rache nehmen und haben auf die Fahrzeuge geschossen. Wahrscheinlich waren sie auch total desorientiert und hatten selbst Angst. Deshalb haben sie wild um sich geschossen."
Die Ermittler konnten inzwischen fünf Soldaten identifizieren, mithilfe von Gesichtser-kennungssoftware. Den Kommandeur der Einheit, zwei seiner Stellvertreter und zwei einfache Soldaten. Sie sollen zur Einheit "OMON" gehören, einer Art Militärpolizei der russischen Nationalgarde. Das ist Nikita G. Die ukrainischen Ermittler sind sich sicher: er hat an diesem Tag in Hostomel auf Zivilisten geschossen. Auf den Überwachungsvideos ist er gut zu erkennen. Wir stoßen auf Bilder von ihm in Uniform. Er soll 30 Jahre alt sein und aus Irkutsk stammen. Wir finden seine Kontaktdaten und versuchen immer wieder ihn zu erreichen. Schließlich gelingt es uns. Unser Eindruck nach dem Telefonat: Nikita weiß von den ukrainischen Ermittlungen gegen ihn.
O-Ton Panorama: "Das war anscheinend Nikita G. der in Hostomel auch dabei war und der hat ja bestätigt, dass er halt das ist und er meint also die ukrainischen Recherchen dazu hat er mal als Blödsinn bezeichnet."
Die russische Regierung lässt über ihre Botschaft ausrichten, sie habe zu Nikita G. und den anderen Soldaten keine Erkenntnisse. Der Mann der G. laut Ermittlern den Schieß-Befehl gegeben haben soll, ist Sergey K. Seit den 90er ist er bereits bei der Truppe. Seit 2005 leitet er die OMON-Einheit in der Region Krasnojarsk. OMON-Polizisten werden in Russland - unter anderem für die Zerschlagung von Demonstrationen und Aufständen eingesetzt. Ende 2022 sagt Sergey K. einer russischen Zeitung: "Ich bin stolz darauf, in dieser Spezialeinheit zu dienen." Der stolze Kommandeur - Für die ukrainischen Ermittler ein Kriegsverbrecher.
O-Ton Dmytro Sitar, Staatsanwaltschaft Kiew: "Wir haben Berichte von Augenzeugen und Bilder der Videoüberwachung. Daher wissen wir, dass der OMON-Kommandeur seinen Leuten befohlen hat auf zivile Fahrzeuge zu schießen."
Auch in Deutschland wird ermittelt – vom Generalbundesanwalt. Schließlich ist mit Steve Meiling ein Deutscher Opfer eines mutmaßlichen russischen Kriegsverbrechens geworden. Das deutsche Verfahren könnte durchaus mehr erreichen als das ukrainische: denn Deutschland könnte einen internationalen Haftbefehl besser durchsetzen:
O-Ton Gabor Subai, Rechtsanwalt von Steve Meiling: "International macht es halt schon einen Unterschied welches Land die Verhaftung bzw. Auslieferung beantragt. Und Deutschland verfügt über einigen Einfluss und den sollte Deutschland auch geltend machen. Im Klartext: Deutschland sollte auch auf internationaler Ebene dafür sorgen, dass dieser Strafanspruch durchgesetzt wird und eben einen internationalen Haftbefehl erwirken."
Auslandsreisen würden für die Tatverdächtigen dann zur Gefahr. Steve Meiling und seine Frau Anna sind wieder in Sicherheit. Mit den Folgen des Krieges wird er wohl ein Leben lang zu kämpfen haben. Schon deshalb will er die Täter irgendwann hinter Gittern sehen, auch wenn er weiß, dass das wohl schwierig wird.
O-Ton Steve Meiling: "Die Täter sind nicht greifbar, weil sie eben in Russland sind. Und jetzt bleibt abzuwarten. Also es wird mit Sicherheit ein Prozess werden, der nicht im nächsten halben Jahr oder Jahr zu Ende geht, sondern ich rechne fest damit, dass das über Jahre sich hinziehen wird."
Bericht: Volkmar Kabisch, Antonius Kempmann, Taras Lazer, Marlene Obst, Sebastian Pittelkow, Florian Flade
Mitarbeit: Irina Chevtaeva, Amir Mussawy
Schnitt: Kay Ehrich, Alexander Liu