Sendedatum: 25.07.2024 21:45 Uhr

US-Streumunition in der Ukraine: Doppelmoral des Westens? (Manuskript)

Panorama v. 25.07.2025

Anmoderation Anja Reschke: Lohnt es sich in einem Krieg über Moral nachzudenken? Es geht darum, den Gegner zu treffen, zu töten. Das kann moralisch nicht gut sein. Was aber, wenn man angegriffen wird? Hat man dann nicht das Recht auf Verteidigung? Seit 2 ½ Jahren greift Russland die Ukraine an. Das verstößt gegen Völkerrecht. Deutschland steht deshalb auf Seiten der Ukraine. Unterstützt mit Waffen. Das ist für uns das moralisch Richtige im Falschen. Trotzdem gibt es Grenzen. Der Einsatz von Streubomben etwa wird seit dem Osloer Abkommen in vielen Ländern geächtet, auch Deutschland hat unterschrieben. Streubomben treffen, wie der Name schon sagt, nicht zielgenau nur gegnerische Stellungen, sondern gerade auch oft Zivilisten. Russland setzt in großem Maße Streumunition ein. Das ist moralisch verwerflich. Aber es gehört zur journalistischen Pflicht, das ganze Bild im Auge zu behalten. Und dazu gehört, dass auch die Ukraine Streumunition einsetzt. Und … dass Deutschland etwas damit zu tun hat. Lisa Maria Hagen und Mariam Noori"

O-Ton Soldat: "Sie dürfen hier das filmen. Und auch das. Aber das bitte nicht."
Panorama: "Ja, ok."     

Was hier liegt, darf selten gefilmt werden. Nach monatelangem Warten dürfen KollegInnen Anfang Juni die 33. Brigade in der Ostukraine begleiten. Hier, 10 km von der Front, bei Marjinka ist ihre Stellung. Das Besondere: ihre Munition. Ganze Lager.

O-Ton Soldat: "Wir gehen durch den Wald! Dort zeige ich es ihnen."

In diesem Wald liegt etwas verborgen, das die Welt spaltet. Streumunition - international geächtet und in 112 Staaten verboten. Auch in Deutschland. Wie gut sich die Bundesregierung an dieses Verbot hält, erfahren wir später. Die USA liefern diese Streumunition. Die Ukraine setzt sie ein. Als Reaktion auf Russlands Angriffskrieg. Umstritten ist der Inhalt dieser Rakete: 88 Mini-Bomben. Sie sollen gleich so viele russische Soldaten wie möglich töten.           

O-Ton Soldat: "Go, Russo, Schweine! Kanone! Abschuss!"

Streumunition kann vom Boden oder aus der Luft eingesetzt werden. Ihre Hülle öffnet sich und setzt viele kleine Sprengkörper frei. Die Submunition. Sie streut über eine Fläche von bis zu mehreren Fußballfeldern. Sie treffen willkürlich. Bei der Explosion werden gefährliche Splitter frei.

Das Risiko, Unschuldige zu treffen, ist viel höher als bei anderen Munitionsarten. Ein Grund, warum sie geächtet ist. Nach Abschuss müssen die Soldaten rennen.

O-Ton Soldat: "Los, los, lauf!"

Sie fürchten Gegenangriffe der Russen. Zuflucht im Schützengraben.

O-Töne, Vasyl, 33. Brigade: "Der Feind hat große Angst vor Streumunition. Sobald wir sie einsetzen, beginnen sie sofort mit dem Gegenschlag, kann man so sage."

Panorama: "Russen verstecken sich ja unter Zivilisten, wie stellen Sie sicher, dass keine Zivilisten von Streumunition getroffen werden?"

Vasyl: "Dann verwenden wir keine Streumunition. Wenn es Zivilisten gibt oder irgendeine Bedrohung für Zivilisten besteht und unsere Drohnen, unsere Augen das sehen, verwenden wir sie nicht."

Streumunition ist unberechenbar, hat in früheren Kriegen viele Unschuldige getroffen. Dieses Mal soll es besser laufen. Eine Regel: Die Ukraine darf sie nie in dicht besiedelten Gebieten einsetzen.  Und diese Brigade führt vor, wie sie das befolgt. Jeder Einsatz soll genau dokumentiert und überwacht werden. Vor dem Abschuss analysieren sie das Ziel per Drohne. Hinter dieser dünnen Baumreihe vermuten sie russische Schützengräben.         

O-Ton Soldat: "Streumunition im Anflug! Im Anflug - Streumunition!"

Die Brigade sagt, dass sie einen Infanterie-Posten der Russen getroffen haben, mit mehreren russischen Soldaten. Streumunition gilt als besonders effektiv möglichst viele Soldaten zu töten. Sie trifft aber auch oft Zivilisten, hat daher einen schlechten Ruf. Doch die Ukrainer haben insgesamt zu wenig Munition. Daher brauchen sie diese Waffe, um sich gegen einen deutlich überlegenen Gegner zu verteidigen. Und eins ist klar: Russland hat in diesem Krieg Streumunition eingesetzt - massiv.

O-Ton Mykhailo, 33. Brigade: "Oh, wir wurden getroffen, und das nicht nur einmal. Die Raketen schlugen buchstäblich neben uns ein, direkt hinter dem Schutzwall. Hier sehen sie, alles voller Splitter. Das ist nicht nur einmal passiert. Man muss ein bisschen auf Wunder hoffen. Und darum beten, dass sie woanders hinfliegen. Wir brauchen sie hier nicht. Und sie fliegt dann woanders hin. Wenn du Angst hast, dass sie hier einschlägt, dann ist es besser, gleich wegzulaufen, verstehen Sie?" 

Die ukrainischen Soldaten sehen es daher als ihr gutes Recht, sich so zu wehren. Es geht um Verteidigung und Vergeltung.

O-Ton Soldat: "Die Russen kamen in unser Zuhause, auf unser Land. Sie schießen mit allem, was sie haben, auf uns. Warum sollen wir nicht das Recht haben, zurückschießen zu dürfen?"

Die Soldaten posieren hier stolz mit der Streumunition. Eine Waffe, die fast der ganze Westen ächtet - besonders Deutschland. Und doch ist sie an die Front unserer Verbündeten gelangt. Wie kam sie überhaupt hierher? Es gibt einen guten Grund für die Ächtung von Streumunition: Ihre Vergangenheit. 

Sie wurde fast 50 Jahre in Kriegen eingesetzt, war zunächst die Waffe mächtiger Länder. Sie wurde über 41 Staaten abgeworfen. Brachte Leid und Zerstörung. Millionen Blindgänger blieben zurück, sie wirken ähnlich wie Minen. Bis heute fast täglich Unfälle. Oft Jahre nach Kriegsende. 2022 sollen 95% der Opfer von Streumunition Zivilisten gewesen sein. Viele durch Blindgänger. Und 71% davon: Kinder. Sie verwechseln bunte Blindgänger häufig mit Spielzeug.

O-Ton Barack Obama, damaliger US-Präsident, 07.09.2016: "Wir sehen Opfer von Bomben, wegen Entscheidungen, die ein halbes Jahrhundert zurückliegen. Das erinnert daran, dass Kriege immer einen hohen Preis fordern." (Quelle: White House )

2008 wurde Streumunition durch das Oslo-Abkommen völkerrechtlich verboten. Russland, die USA und die Ukraine haben nie unterschrieben. Dennoch waren die Lieferungen an die Ukraine höchst umstritten.

O-Ton Olaf Scholz, Bundeskanzler, 14.07.2023: "Krieg ist dreckig, aber die USA haben eine rote Linie überschritten, die viele NATO-Partner nicht überschreiten würden. Die amerikanische Regierung hat eine Entscheidung getroffen, die nicht unsere ist."

O-Töne, "Markus Lanz", 23.02.2023, Boris Pistorius, Bundesverteidigungsminister: "Es gibt eine Grenze in der Tat."

Markus Lanz: "Wo ist diese Grenze?"

Boris Pistorius: "Bei Phosphor- und Streubomben."

O-Ton Wolfgang Ischinger, ehem. Leiter Münchner Sicherheitskonferenz, 18.02.2023: "Das sind tatsächlich Dinge, mit denen die NATO nichts zu tun haben sollte."

Gilt Pistorius Ablehnung auch heute noch? Münchner Sicherheitskonferenz. Politiker haben den russischen Einsatz von Streumunition immer wieder verurteilt. Nun liefern die Amerikaner an die Ukraine.  Was sagen Politiker, die sich früher gegen Streumunition ausgesprochen haben?   

O-Töne Anders Fogh Rasmussen, ehem. NATO-Generalsekretär: "Krieg ist eine grausame Angelegenheit, und wir würden uns alle wünschen, dass das nicht passieren würde. Aber wenn wir es den Russen durchgehen lassen, dass sie Streumunition nutzen und es der Ukraine verbieten, aus welchen Gründen auch immer, dann würden wir den Russen unabsichtlich einen Vorteil verschaffen."

Panorama: "Aber wozu haben wir das Völkerrecht, wenn wir es in Kriegszeiten nicht befolgen?"

Anders Fogh Rasmussen: "Ich glaube, da kann ich nichts mehr ergänzen, ich war da klar."

Auch Deutschland ächtet Streumunition. Das betont Pistorius immer und überall. Ächtung bedeutet auch, andere Staaten vom Einsatz abzuhalten.

O-Töne Panorama: "Herr Pistorius, wie beurteilen Sie denn die US-Lieferungen von Streumunition an die Ukraine?"

Boris Pistorius, Bundesverteidungsminister: "Das ist eine alte Geschichte, wir sind Unterzeichner eines entsprechenden Abkommens, die Amerikaner können das liefern. Und das hab ich nicht zu kommentieren."          

In anderen Worten: damit haben wir nichts zu tun. Die Amerikaner können wir nicht abhalten. Stimmt das wirklich? Über Deutschlands Rolle erfahren wir später mehr. Weiter zur Ukraine.          

O-Töne Panorama: "Kein Staat hat bis heute Streumunition moralisch und ethisch vertretbar eingesetzt - warum soll die Ukraine die Ausnahme werden?"

Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kyjiw: "In der Ukraine wird die Zukunft Europas entschieden. Und wenn die Ukraine scheitert, Also … Ich hoffe nicht."

Panorama: "Also darf man sich mit allem verteidigen? Selbst mit einer sehr kontroversen Waffe? Und die Folgen..."

Vitali Klitschko: "Was, was, meinen sie mit kontrovers?"

Panorama: "Naja, Streumunition ist eine kontroverse Waffe und die ukrainische Zivilbevölkerung könnte noch jahrzehntelang unter den Blindgängern leiden."

Vitali Klitschko: "Bitte: Wir brauchen Waffen zur Verteidigung. Denn wir verteidigen unsere Heimat. Und bitte vergesst nicht, wir verteidigen jeden von euch."

Erstmals wurde 2023 Streumunition auf der Münchner Sicherheitskonferenz gefordert. Von ihm, dem ukrainischen Regierungsvertreter Kubrakov, der den vorsichtigen Umgang betont.

O-Töne Oleksandr Kubrakov, ukrainischer Regierungsvertreter: "Ich denke, sie hat uns geholfen, unser Territorium zu schützen. Wir nutzen sie auf unserem Land gegen die Russen. Wir nutzen sie nicht in dicht besiedelten Gebieten."

Panorama: "Es gibt Berichte über den Einsatz von Streumunition in dicht besiedelten Gebieten, die russisch besetzt waren und dann von der Ukraine rückerobert wurden."

Oleksandr Kubrakov, Regierungsvertreter: "Ne, wir wissen nichts von solchen Fällen."

Kein Einsatz in dicht besiedelten Gebieten? Seit vielen Monaten recherchieren wir. Im Winter fahren wir selbst in die Ostukraine. Erste Überraschung: Die Ukraine hatte schon Streumunition - aus alten sowjetischen Beständen. 

Dieser Bericht der NGO Human Rights Watch macht detaillierte Angaben mit Beweisfotos zum Einsatz in der Ukraine.         

O-Ton Panorama: "Hier sieht man halt auch Einschlaglöcher."

Laut Bericht auch in dicht besiedelten Gebieten. Zivilisten sollen verletzt und getötet worden sein. Uns liegen Koordinaten der Einschläge vor. Wir reisen tief in den Osten der Ukraine - zum Ort des Angriffs. Nach Isjum. Die Stadt liegt 120 km von Russland entfernt. Im März 2022 wurde Isjum von russischen Truppen eingenommen. 6 Monate später eroberten ukrainische Truppen die Stadt wieder zurück. Isjum, eine Stadt, monatelang zwischen den Fronten. Hat hier die Ukraine tatsächlich auch Streumunition eingesetzt? Sind wirklich dabei Zivilisten getroffen worden? Wir folgen den Koordinaten aus dem Bericht. Und suchen nach Zeugen und Opfern. Ganz altmodisch: Durch anklopfen. Und rufen.       

O-Ton Panorama: "Hallo! Jemand zu Hause? Guten Tag! Guten Tag." 

Hier, in dieser Wohnsiedlung, soll im April 2022 sowjetische Streumunition eingesetzt worden sein, so der Human-Rights-Watch Bericht. Einschläge. Sieht nach Streumunition aus. Wir treffen auf eine Anwohnerin.

O-Töne Panorama: "Kennen Sie Menschen, die hier von Streumunition getroffen wurden?"

Olha, Anwohnerin: "Ja, klar. Ich."

Panorama: "Sie? Wirklich?"

Olha: "Ja."           

Die 60-Jährige Olha ist offenbar eines der Opfer. Und sie stellt uns weitere vor.          

O-Ton Olha, Anwohnerin: "Die Mädels hier recherchieren zu Streumunition, die uns getroffen hat. Kannst Du gleich alles erzählen. Zieh dir was Ordentliches an, Natasha."

Natasha wurde bei dem Angriff schwer verletzt. Sie geht seitdem auf Krücken.

O-Töne Olha, Anwohnerin: "Du hättest den Mantel anziehen sollen."

Panorama: "Können sie einmal erzählen, was passiert ist? Sie saßen hier, ja."

Natasha S., Anwohnerin: "Ja, genau am 02. April. Es war hier ruhig und sonnig. Wir saßen hier, es gab kein Licht, kein Gas, kein Wasser. Wir haben uns da einen provisorischen Ofen gebaut und waren dabei Kartoffeln zu kochen."         

Olha: "Da hat es geknallt. Es kam mir vor, als wäre das Haus auf mich eingestürzt. Mein Kopf wurde getroffen. Ich lag da. Blut strömte hier runter. Ich merkte nicht einmal, wie mein Bein verletzt war. Dann wurde ich ohnmächtig."

Hier noch die Spuren des Angriffs, sagen sie. Wenn Submunition explodiert, werden gefährliche Splitter frei. Sie wirken tatsächlich wie Pistolenkugeln. Können sogar Metall durchbohren. Bei Menschen verursachen sie schlimme Verletzungen. Natasha wurde von großen Fragmenten an den Beinen getroffen.         

O-Ton Natasha S., Anwohnerin: "Weißt du, ich saß hier so. Meine Beine wurden zerfetzt. Der Knochen ist zwar nicht ganz durchgebrochen, aber ich wurde stark verletzt."

Das ist ein dicht besiedeltes Gebiet. Überall sind Häuser. In der Nähe ein Kindergarten. Kinder sollen auch getroffen worden sein.

O-Töne Mutter: "Die Splitter sind da rein."

Vater: "Ich habe es geschafft, das Kind noch ins Haus zu werfen. Den Älteren habe ich so gepackt, und dann explodierte es."          

Kleinere Splittern trafen die Jungs.

O-Töne Frau: "Der eine wurde hier an der Wange getroffen. In die Schulter und die Stirn."

Mann: "Es waren die Russen. Soweit ich weiß, hat unsere Armee keine Streumunition. Das sind die verdammten Russen untereinander gewesen, denke ich."

Von der eigenen Armee beschossen worden zu sein - für viele hier schwer zu glauben. Wer es tatsächlich war, ist aber gar nicht so einfach zu sagen, wie man denkt. Die Ermittler von Human Rights Watch finden Splitter von Submunition. Diese stammen noch aus der Sowjetunion. Sowohl Russland als auch die Ukraine sollen sie haben. Nur die Splitter beweisen also nicht, wer geschossen hat. Die Ermittler von Human Rights Watch haben aber Indizien, dass diese Streumunition von den Ukrainern abgefeuert wurde. Doch warum sollten sie hier Streumunition eingesetzt haben?

O-Töne Panorama: "Hier sind nur Häuser. Wieso wurdet ihr bombardiert?"

Olha, Anwohnerin: "Die Schule. Da waren russische Soldaten drin."

Der Angriff ereignete sich etwa 300 Meter von einer Schule, die russische Truppen von März bis Juli 2022 besetzt hatten. Ukrainische Truppen befanden sich in unmittelbarer Nähe. Nach Analysen der Positionen der Splitter und weiterer forensischer Beweise schlussfolgern die Ermittler, dass die Streumunition von ukrainischen Stellungen abgeschossen wurde. Möglicherweise war diese Schule das eigentliche Ziel. Und die Bewohner gerieten zwischen die Fronten.

O-Töne Panorama: "Wissen Sie, welche Seite sie beschossen hat?"

Natasha S., Anwohnerin: "Ich weiß es nicht."

Olha, Anwohnerin: "Ach, Sonnenschein, wir haben doch keine Ahnung."

Panorama: "Können sie sich vorstellen, dass die ukrainische Seite auf sie geschossen hat?"

Natasha: "Das weiß ich nicht. Warum sollten Ukrainer auf uns schießen? Auf ihr eigenes Volk. Das denke ich."

Panorama: "Aus Versehen?"

Olha: "Aus Versehen!? Ach, was"         

Die Geschichten der Opfer hier ähneln sich. Russische Soldaten versteckten sich in zivilen Einrichtungen. Und ukrainische Truppen waren immer in unmittelbarer Nähe. Die Russen waren also da, die Ukrainer dort. Die Bewohner hier lebten also genau zwischen den Fronten.        

O-Töne Anwohnerin: "Wisst ihr, Mädels, anfangs hat man Angst. Aber irgendwann gewöhnt man sich daran. Aha. Es raucht, das heißt, es wurde geschossen. Also bleiben wir stehen und laufen nicht weg. Wohin sollen wir auch laufen?"

Panorama: "Wissen Sie, welche Seite sie beschossen hat?"

Anwohnerin: "Wir haben keine Ahnung. Sie bombardieren. Bombardiere deine Leute und deine Feinde werden dich fürchten."

Seit 2014 gibt es Berichte über den Einsatz sowjetischer Streumunition in der Ukraine. Vor allem durch Russland, aber in einigen Fällen auch durch die Ukraine. Für 2022 haben auch die UN den Einsatz von Streumunition durch die Ukraine in Isjum nachgewiesen.

Auf Anfrage erklärt ein Sprecher der ukrainischen Streitkräfte, dass keine Streumunition in Isjum und ihrer Umgebung eingesetzt wurde. Zwei Fahrstunden von Isjum entfernt, sammeln die Ukrainer Reste russischer Raketen, die hier eingeschlagen sind.

Ein Bombenfriedhof für spätere Untersuchung russischer Kriegsverbrechen. Hier liegt sehr viel sowjetische Streumunition. Diese gilt als besonders tückisch - mit einer Blindgängerquote von 40%. Der Sprecher der Staatsanwaltschaft führt uns rum.          

O-Töne Dmytro Chubenko, Staatsanwaltschaft Charkiw: "Uragan-Rakete."

Panorama: "Aus welchem Jahr ist sie?"

Dmytro Chubenko: "Naja, das ist nicht ganz klar. Aus den 70ern und 90er Jahren."

Panorama: "Die sind aus der Sowjetunion, oder?"

Dmytro Chubenko: "Ja, ja."      

Die sollen alle von Russland abgeschossen worden sein.        

O-Töne Dmytro Chubenko, Staatsanwaltschaft Charkiw: "Das ukrainische Militär hat ebenfalls Streumunition. Diese sind sowjetischer Herkunft. Da wo die Ukrainer diese Streumunition einsetzen, nämlich nur gegen die Russen, da gibt es keine Zivilisten."

Panorama: "In Isjum haben uns die Menschen erzählt, dass sie gar nicht wussten, welche Seite sie beschossen hat. Was denken sie darüber?"

Dmytro Chubenko: "Worüber reden wir? Über Massenbeschuss? Russland verbreitet sehr viele Fakes darüber, dass die ukrainische Armee Zivilisten attackiert, sind Fakes. Das nennt sich russische Propaganda. In dieser Situation sollte man sich auf das Wesentlich konzentrieren. Und Sie richten ihre Aufmerksamkeit auf einige wenige Beschüsse in Isjum. Ja, dort sind Menschen umgekommen, das ist schlimm. Und soll untersucht werden."    

Nach dieser Andeutung keine weiteren Auskünfte. Der Einsatz von Streumunition in dicht besiedelten Gebieten könnte auch als Kriegsverbrechen gewertet werden. Die US-Regierung musste die Berichte aus Isjum kennen - und hat trotzdem geliefert. Zurück in Deutschland, das angeblich nichts mit amerikanischer Streumunition zu tun hat. Oder behauptet, von nichts zu wissen.

Bei unserer Recherche stoßen wir auf ein altes Dokument der US-Armee aus 1983. Daraus geht hervor, dass damals amerikanische Streumunition, bekannt als "DPICM” - in Deutschland gelagert war. Zufälligerweise der gleiche Typ, der aktuell auch in die Ukraine transportiert wird. Und die Streumunition lagerte in Miesau, mitten in Rheinland-Pfalz.

Kann es sein, dass die USA immer noch Streumunition in Miesau lagern und diese von dort aus in die Ukraine schicken? Drehanfragen für Miesau bleiben unbeantwortet. Wir fahren selbst hin. Hier ist das größte US-Munitionsdepot außerhalb der USA. Liegt hier vielleicht auch die amerikanische DPICM? Wir fragen den Wachmann.

O-Töne Panorama: "DPICM - haben sie schon einmal etwas davon gehört? Die DPICM soll hier gelagert sein in Miesau. Wir versuchen herauszufinden, ob die DPICM hier noch gelagert sind oder ob sie…."

Wachmann: "Da habe ich keine Infos zu. Können sie mal bitte aufhören zu filmen."

Mann: "Militärpolizei kommt jetzt."     

Wir gehen dann lieber. Genauso ahnungslos wie der Wachmann, scheint auch die Bundesregierung zu sein. Sie weiß angeblich nichts von US-Streumunition in Miesau. In dieser kleinen Anfrage dazu des Bündnis Sahra Wagenknecht beteuert sie: "Der Bundesregierung liegen keine eigenen Erkenntnisse im Sinne der Fragestellung vor.”

Eigenes Wissen wäre auch ein Problem. Dann würde die Bundesregierung womöglich gegen völkerrechtliche Verpflichtungen verstoßen. Lagerung und Transport von Streumunition in und durch Deutschland sind verboten. Denn da war ja mal das Oslo-Abkommen. Die Bundesregierung war damals einer der Erstunterzeichnerstaaten - und stolz auf ihre besondere Verantwortung.      

O-Ton Frank-Walter Steinmeier, damaliger Außenminister, 03.12.2008: "Dies ist ein Meilenstein und wir wollen, dass die Konvention, die jetzt von 100 Staaten unterzeichnet wird, ein weltweites Verbot errichtet.    

Danach ging die Bundesregierung mit allerbestem Beispiel voran. Eine wichtige Verpflichtung aus dem Oslo-Vertrag war: Die Zerstörung eigener Bestände von Streumunition. So vernichtete Deutschland mehr als 60 Millionen an Submunition. Auch die Produktion, Lagerung und der Transport von Streumunition waren fortan verboten. Doch dazu gibt es offene Fragen. Denn die USA hatten ja ihre Streumunition auf deutschem Boden gelagert. Aus vertraulichen Dokumenten geht das zunächst hervor. Und dass soll auch 2008 noch der Fall gewesen sein. Ungeachtet des Oslo-Abkommens. Was wurde aus der US-Streumunition? Franz Josef Jung war damals Verteidigungsminister und Verfechter des Oslo-Abkommens.

O-Ton Franz Josef Jung, damaliger Verteidigungsminister, 29.05.2008: "Das ist ein wichtiger Meilenstein, der unter der Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts ist."

Er könnte wissen, ob noch US-Streumunition in Deutschland lagert.  

O-Töne Panorama: "Es sind ja damals einige vertrauliche Dokumente öffentlich geworden, aus denen hervorging, dass die USA auch ziemlich viel Druck ausgeübt hat. Wie haben Sie das damals wahrgenommen?"

Franz Josef Jung: "Also aus Geheimgesprächen sage ich nichts. Ich kann nur Folgendes sagen."

Panorama: "Die sind ja schon öffentlich."

Franz Josef Jung: "Dass wir…"

Panorama: "Daher nicht mehr geheim…"

Franz Josef Jung: "Dass die Amerikaner akzeptiert haben, dass wir das unterschrieben haben."

Panorama: "Aus diesen Gesprächen geht ja auch hervor, dass die USA noch Streumunition in Deutschland gelagert hat."

Franz Josef Jung: "Was meinen Sie????"

Panorama: "Aus den Dokumenten ging ja auch hervor, dass die USA noch Streumunition in Deutschland gelagert hat. Was wurde aus dieser Streumunition? Wurde sie entfernt oder ist sie immer noch da?"

Franz Josef Jung: "Dazu kann ich nicht sagen."

Panorama: "Warum nicht?"

Franz Josef Jung: "Weil es geheim ist."

Panorama:
"Also ist es geheim, dass die Streumunition in Deutschland lagert, oder generell sind solche Informationen geheim?"

Franz Josef Jung: "Geschickt gefragt von Ihnen. Aber ich sage dazu nichts."    

Wir versuchen es weiter. Führen Telefonate und schreiben E-Mails. Sehr viele E-Mails. Wir korrespondieren mit der US-Armee. Fragen uns bis zum Pentagon hoch. Monatelang geht es hin und her. Die Antworten verdichten sich. Am Ende bestätigt die US-Armee: In Miesau lagert US-Streumunition. Und sie wird von dort aus über Polen in die Ukraine transportiert. Wie lässt es sich vereinbaren, Streumunition nach außen zu ächten, aber Lagerung und Transport von US-Streumunition auf deutschem Boden in Kauf zu nehmen?

Wir fragen das Verteidigungsministerium an. Ein Interview bekommen wir nicht. Aber eine Einladung für dieses Marine-Event. Hier warten alle auf Boris Pistorius. Nach der U-Boot-Fahrt ist er da und wir dürfen Fragen stellen.        

O-Töne Panorama: "Herr Pistorius, ich habe mal wieder eine Frage zur Streumunition. Deutschland lehnt Streumunition ja ab, hat sogar eine Konvention unterschrieben, die Streumunition auf ewig bannt. Wieso lassen Sie dann trotzdem zu, dass die USA in Deutschland Streumunition lagert und diese zum Einsatz für die Ukraine liefert?"

Boris Pistorius, Verteidigungsminister: "Also erstens weiß ich das nicht, woher geliefert wird und zweitens würde ich es auch nicht kommentieren. Wenn es amerikanische Streumunition ist, können die Amerikaner damit so umgehen, wie es ihre Vertragslage zulässt."        

Wusste Deutschland wirklich von nichts? Ein Sprecher der US-Armee schreibt uns, dass die Amerikaner deutsche Stellen über jeden Transport und dessen Inhalt, also US-Streumunition, informieren. Das Bundesverteidigungsministerium widerspricht dem. Die Transporte würden der Bundeswehr zwar gemeldet, jedoch nicht deren genauer Inhalt. Deutschland wollte einmal Vorbild sein: Nie wieder Streumunition. Keine Lagerung. Kein Transport. Nun bleibt als letzte Rechtfertigung: "Wir wussten von nichts”. Und auch das ist offenbar fraglich. Wenig vorbildlich.

Bericht: Lisa Hagen, Mariam Noori
Mitarbeit: John Goetz
Kamera: Lisa Hagen, Nadja Hübner, Henning Wirtz
Schnitt: David Diwiak, Jan Littelmann 

Abmoderation Anja Reschke: "Wenn wir Streumunition ächten, dann kann sie auch nicht in Deutschland gelagert oder transportiert werden. So ist das mit moralischen Prinzipien. Entweder sie gelten ganz oder gar nicht. Andere Staaten wie z.B. Großbritannien haben die USA öffentlich gebeten, ihre Streumunition abzutransportieren. Es geht also auch anders."

 

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 25.07.2024 | 21:45 Uhr

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