Verbrannte Erde: Wie Syrien seine Bürger verstößt

Stand: 25.03.2021 06:00 Uhr

Das Assad-Regime beschlagnahmt massenhaft Häuser von Geflüchteten. Auffällig häufig trifft diese Enteignung Sunniten, die mehrheitlich oppositionell eingestellt sind.

von Stefan Buchen, Sulaiman Tadmory

Seit 2014 führen Syrer zuverlässig die Statistik der nach Deutschland Geflüchteten an. Es ist eine Folge des Krieges, der vor zehn Jahren begann. Der Krieg ist zwar abgeflaut, aber noch nicht beendet. Fast eine Million syrische Flüchtlinge sind nach Deutschland gekommen. 

"Flüchtlingsschutz ist auch im Falle Syrien ein Schutz auf Zeit", sagte der CDU-Abgeordnete Stephan Harbarth, der inzwischen Präsident des Bundesverfassungsgerichts geworden ist, im November 2017 im Bundestag. Damit formulierte Harbarth eine in seiner Partei verbreitete Erwartung. Die Flüchtlinge aus Syrien sollen wieder zurück in ihre Heimat, sobald der Krieg vorbei ist. 

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Wohnungen der Geflüchteten werden enteignet

Aiman ad-Darwish (r.) mit seiner Familie © NDR /ARD Foto: Screenshot
Aiman ad-Darwish (2.v.r.) flüchtete mit seiner Familie 2015 nach Deutschland. Sein Haus im syrischen Palmyra wurde vom Regime beschlagnahmt.

Dieser Erwartung steht eine in der Öffentlichkeit kaum bekannte Entwicklung entgegen. Das Regime von Machthaber Baschar al-Assad beschlagnahmt und enteignet massenhaft die Wohnungen und Häuser der Geflüchteten. Eine gezielte Bevölkerungspolitik scheint damit verbunden. Das Regime will offenbar einen beträchtlichen Teil seiner Bürger dauerhaft loswerden. Ein Blick auf die betroffenen Städte und Viertel zeigt: Vor allem geflüchtete Sunniten, also Angehörige der Bevölkerungsmehrheit, sollen ihren Immobilienbesitz verlieren. Machthaber Assad gehört der religiösen Minderheit der Alawiten an. 

Aiman ad-Darwish ist 2015 mit seiner Frau und vier Kindern nach Deutschland geflüchtet. Er stammt aus Palmyra, der für ihre - vom IS teilweise zerstörten - antiken Ruinen berühmten Wüstenstadt. Wir treffen ihn in Osterode am Harz, in einer engen Flüchtlingswohnung. In Palmyra besaß die Familie ein stattliches Haus. "312 Quadratmeter Wohnfläche und einen arabischen Innenhof mit Wasserbecken und Granatapfelbäumen", erzählt Aiman ad-Darwish. Er zeigt Fotos mit Außen- und Innenansichten und ein Video, auf dem seine Kinder in dem Wasserbecken planschen. "Lange habe ich dafür gearbeitet und gespart", berichtet der Innendekorateur, "2009 sind wir da eingezogen. 2015 mussten wir dieses kleine Vaterland verlassen." 

Vertreibungspolitik gegenüber Sunniten

Aiman ad-Darwish macht sich keine Illusionen. Nach seinem Verständnis ist sein Haus in Palmyra für immer verloren, beschlagnahmt vom Regime, faktisch enteignet. "Ich bin in Kontakt mit meinen früheren Nachbarn, die nach Saudi-Arabien bzw. in die Türkei geflüchtet sind. Alle berichten dasselbe: Der Zugang zum gesamten Viertel ist für die ehemaligen Bewohner gesperrt." Aiman ad-Darwish, seine Nachbarn und die überwältigende Mehrheit der Bewohner von Palmyra sind Sunniten. "Diese Vertreibungspolitik richtet sich gegen die Sunniten. Jeder weiß das", sagt ad-Darwish. 

Schon 2012 gibt es erste Anzeichen, dass das Assad-Regime den Krieg für eine demografische Neuordnung nutzen will. Geflüchteten wird die Rückkehr in ihre Häuser und Wohnungen verwehrt. Als Assad mit Hilfe der schiitischen Hisbollah 2013 die strategisch wichtige und mehrheitlich sunnitische Stadt Al-Qusair nahe der libanesischen Grenze von den Rebellen zurückerobert, wird die sunnitische Bevölkerung der Stadt vertrieben. 

Mehrfach hat Assad offen ausgesprochen, dass er als ein wichtiges Kriegsziel die dauerhafte Ausgrenzung unliebsamer Bevölkerungsgruppen anstrebt. Am 20. August 2017 wurde er in einer Rede vor dem Parlament besonders deutlich: Sicher, man habe im Kampf einige der "besten Söhne" verloren und die Zerstörung von Infrastruktur zu beklagen, führte Assad aus. "Aber im Gegenzug haben wir etwas gewonnen: eine gesündere und homogenere Gesellschaft." Schon zuvor hatte er am selben Ort betont: "Das Vaterland steht einem nicht zu, weil man darin wohnt oder weil man einen Reisepass hat", so Assad. Das Recht der Teilhabe am syrischen Vaterland erwerbe man, indem man für es kämpfe. Wer das nicht tue, "der verdient überhaupt kein Vaterland." 

Zehn Millionen Syrer mussten flüchten

Loay Mudhoon © NDR /ARD Foto: Screenshot
Loay Mudhoon, Nahost-Experte der Deutschen Welle, wirft dem Assad-Regime Enteignungspolitik vor.

Die Diktatorenworte zielen auf die "mehrheitlich sunnitische Bevölkerung, die den Aufstand gegen das Assad-Regime getragen hat", meint Loay Mudhoon, Nahost-Experte der Deutschen Welle, im Interview mit Panorama. Mehr als zehn Millionen Syrer, etwa die Hälfte der Bevölkerung, leben nicht mehr da, wo sie 2011, zu Beginn des Konflikts, lebten. Etwa die Hälfte der Vertriebenen hat Zuflucht in den wenigen Gebieten Syriens gefunden, die das Regime bislang nicht zurückerobern konnte, vor allem in der nordwestlichen Provinz Idlib. Die andere Hälfte, also ca. fünf Millionen Menschen, ist ins Ausland geflüchtet. "Das Regime ist nicht daran interessiert, dass diese Menschen zurückkommen", sagt Syrien-Experte Mudhoon. 

Neben strategisch wichtigen kleineren Orten wie Palmyra und Al-Qusair trifft die Vertreibungs- und Enteignungspolitik bevölkerungsreiche Viertel an der Peripherie der Großstädte Damaskus und Aleppo. Hier konzentrierten sich die ärmeren Segmente der sunnitischen Bevölkerung, die vor 2011 aus den ländlichen Gebieten in die Randzonen der Städte gezogen waren. Über Jahre waren Viertel wie al-Goutha östlich der Hauptstadt Damaskus "Hochburgen des Aufstandes", wie Loay Mudhoon erläutert. Nun, nachdem das Regime diese Gebiete zurückerobert hat, greife hier eine "feudale Logik". Das Regime verteile den Immobilienbesitz an seine Unterstützer: Offiziere, Soldaten, Milizionäre, loyale Geschäftsleute. "Das ist eine syrische Form der Enteignungspolitik", so Mudhoon. Dabei wolle das Regime nicht die gesamte sunnitische Bevölkerung entrechten und loswerden. Viele sunnitische Angehörige der Mittelschicht, zum Beispiel wohlhabende Kaufleute in Damaskus und Aleppo, stünden nach wie vor loyal zum Regime.

Bundesregierung über "Dekret Nummer 10" informiert

Nach Recherchen von Panorama ist sich die Bundesregierung der vom Assad-Regime betriebenen Säuberungspolitik bewusst. Mehrere vertrauliche Lageberichte des Auswärtigen Amtes (AA) zu Syrien aus den Jahren 2018 bis 2020 liegen der Redaktion vor. Darin gibt es jeweils ein eigenes Kapitel mit der Überschrift "Enteignungen". Das Auswärtige Amt bezieht sich auf "glaubhafte Berichte" von Rückkehrern, die daran gehindert worden seien, ihren Immobilienbesitz wieder in Beschlag zu nehmen. Manche würden sogar "verhaftet". Die Enteignungen fänden "großflächig" statt. Diese Politik erhöhe das Risiko, dass Geflüchtete "ihren Besitz verlieren" und nicht mehr nach Syrien zurückkehren. 

Explizit nennen die AA-Berichte "das Dekret Nummer 10", das im April 2018 vom Assad-Regime erlassen wurde. Demnach verlieren Wohnungs- und Hausbesitzer ihre Immobilien, wenn sie sich nicht in einer kurzen Frist bei den syrischen Behörden melden. Für Geflüchtete ist es unmöglich, ihre Besitzansprüche geltend zu machen. 

Putin benutzt Assad als Trumpfkarte

Angela Merkel und Wladimir Putin im Mai 2018 in Sotschi © NDR /ARD Foto: Screenshot
Während des Treffens mit Wladimir Putin im Mai 2018 in Sotschi spricht Angela Merkel das Dekret 10, den möglichen Verlust von Wohneigentum, an.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach das Thema im Mai 2018 während eines Besuchs bei Russlands Präsident Wladimir Putin an. "Sorge" bereite in besonderem Maße "das Dekret Nummer 10 in Syrien, bei dem Menschen, die nicht in einer bestimmten Frist sich melden, ihr Wohneigentum verlieren", so Merkel bei einer Pressekonferenz in Sotschi. Das Dekret sei "eine schlechte Nachricht für alle, die eines Tages wieder nach Syrien zurückkehren wollen." Merkel betonte, sie werde "Russland bitten, seinen Einfluss geltend zu machen, dass das von Assad nicht gemacht wird." Putin reagierte damals ungerührt. Man solle die Syrienfrage unter "humanitären Gesichtspunkten" betrachten, konterte er vielsagend. Es wurde deutlich: Putin verlangt einen Preis, bevor er Druck auf seinen Verbündeten Assad ausübt. Bis heute hat sich nichts bewegt. Putin hält an Assad fest und wünscht sich, dass Europa für den Wiederaufbau Syriens zahlt. Europa fordert den Machtverzicht Assads als Vorbedingung. 

"Eigentumsrechte spielen nach Einschätzung des Auswärtigen Amts eine wichtige Rolle im Syrien-Konflikt," teilte das Auswärtige Amt auf Anfrage von Panorama mit. "Mit rund 40 gezielten Gesetzen seit Konfliktbeginn betreibt das Regime einen systematischen Ansatz, um die lokalen sozialen und wirtschaftlichen Bevölkerungsstrukturen zu beeinflussen. Diese Politik geht vornehmlich zu Lasten von Vertriebenen informeller Siedlungen, die mehrheitlich oppositionell eingestellt waren. Aus der Ferne haben diese kaum Möglichkeiten, ihre Besitzrechte geltend zu machen." Der Frage, ob hauptsächlich Sunniten betroffen seien, weicht das Auswärtige Amt in der Stellungnahme aus. 

Auf dem beschlagnahmten Grund hat das Assad-Regime teilweise grandiose Pläne. Luxusquartiere sollen dort entstehen, natürlich für loyale Bürger. Ob diese syrische Form der Gentrifizierung gelingt, sei dahingestellt. Aber der Immobilienraubzug und die faktische Ausbürgerung von Millionen könnten glücken - niemand stoppt Assad.

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Der Panorama-Beitrag vom 25. März 2021 als PDF-Dokument zum Download. Download (71 KB)

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Das Erste | 25.03.2021 | 21:45 Uhr

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