STIKO: Bloß keine Eile beim Impfen
An die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission halten sich fast alle Ärzt:innen und die Krankenkassen. Doch immer wieder lässt sich die STIKO Zeit - zum Teil monatelang.
Praktisch alle Menschen in Deutschland werden eine dritte Corona-Impfung brauchen: Je schneller die Booster-Impfungen durchgeführt werden, desto eher lässt sich die aktuelle Infektionswelle brechen - und desto weniger Patient:innen füllen die Krankenhäuser und Intensivstationen.
Doch die Kampagne kommt nur langsam voran: Überall im Land stehen Hunderte in langen Impfschlangen - so auch in Hamburg: "Ich bin 82 Jahre alt und stehe jetzt hier seit drei Stunden in der Kälte, denn beim Hausarzt gab es keine Termine", berichtet ein Rentner. Eine ältere Dame ist verzweifelt, kämpft mit den Tränen: "Ich bin einfach nur wütend, wir werden alleingelassen. Ich habe Angst, ich will geboostert werden. Wir sind beide über 70 und müssen jetzt hier in der Kälte anstehen."
Entscheidung mit Monaten Verzögerung
Das neue deutsche Impfchaos wäre vermeidbar gewesen, wenn man mit dem Boostern schneller begonnen hätte. Denn eigentlich ist seit Juli klar, dass alle eine dritte Impfung brauchen. Damals veröffentlichte BioNTech neueste Daten aus Israel, die massiv dafürsprachen. Israel prüfte die Daten drei Wochen und begann Ende Juli mit den Auffrischimpfungen.
Die STIKO hingegen brauchte bis Anfang Oktober, um überhaupt eine Empfehlung auszusprechen - und dann auch nur für einen kleinen Kreis, vor allem über 70-Jährige. Erst am 18. November folgte die allgemeine Empfehlung für alle über 18-Jährigen.
Der ehemalige Leiter des israelischen Impfprogrammes, Ronnie Gamzu, ist schockiert über die deutsche Langsamkeit: "Das war einfach total falsch. Wir hatten klare Beweise, wir haben die Daten. Es gab keine wissenschaftliche Basis dafür zu sagen, die Auffrischimpfung bringe nur den über 70-Jährigen etwas. Wir haben gesehen, dass die Zahl der Antikörper auch bei 40-Jährigen zurückgeht. Was für Beweise braucht man denn noch?"
Zu viel deutsche Gründlichkeit?
Doch warum brauchte die STIKO so lange? Ihr Vorsitzender, der emeritierte Ulmer Virologe Thomas Mertens, sagt im Gespräch mit Panorama, die STIKO arbeite so, "dass wir erst definieren, welche Daten brauchen wir, um zu einer Empfehlung kommen zu können. Und wenn das festgelegt ist, dann müssen diese Daten erhoben, erarbeitet werden. Und wenn diese Daten vorliegen, dann fängt die STIKO an, diese Daten zu diskutieren." Das klingt nicht nach einem akuten Katastrophenmodus.
"Der Vergleich mit Israel ist an vielen Punkten nicht möglich", so Mertens. "Israel ist ein sehr kleines Land, die Bevölkerung sind neun Millionen. Das Gesundheitssystem ist extrem gut organisiert, zentral organisiert, und die Datenerhebung und Verfügbarkeit ist auch sehr, sehr gut."
Doch warum konnte man diese Vorteile nicht nutzen? Die Evidenz in einem anderen Land sei eben nicht einfach übertragbar, so Mertens. Für den Israeli Gamzu nicht nachvollziehbar: "Israel bietet Deutschland eine einmalige Chance, nämlich den Blick in die Zukunft. Bei uns kann man sehen, was bei Ihnen in drei Monaten passiert."
Mertens nennt späte Booster-Entscheidung "ungünstig"
Im Interview gibt der STIKO-Chef zudem zu, dass ein Grund für die späte Booster-Entscheidung gewesen sei, dass Impfziele erreichbar sein müssten: "Das sehen Sie jetzt an der Frage der Empfehlung der über 70-Jährigen. Diese Empfehlung hat den folgenden Grund: Da nicht absehbar ist, dass wir in unserer Bevölkerung so schnell wie in Israel eine Durchimpfung vornehmen können, musste man auf jeden Fall zunächst die Menschen schützen, die auch ein hohes Risiko für schwere Erkrankung haben. Und das war der Hauptgrund für diese Empfehlung."
Mit anderen Worten: Die STIKO entschied nicht aufgrund der reinen Datenlage zugunsten der über 70-Jährigen, sondern auch aufgrund der schlechten Impf-Infrastruktur. Besonders fragwürdig: Exakt während der Monate, in denen die STIKO abwägte, wurden deutschlandweit die Impfzentren geschlossen - also die Infrastruktur weiter abgebaut - ohne großen Protest der Kommission.
Am Ende räumt der STIKO-Vorsitzende aber ein: "Aus der heutigen Perspektive" habe man zu viel Zeit verloren. "Es wäre wahrscheinlich günstiger gewesen, mit dem Boostern früher anzufangen", so Mertens.
Späte Entscheidungen sind längst ein Muster
Doch die STIKO brauchte bei allen Entscheidungen in der Pandemie länger als andere: Schwangere Frauen wurden in den USA und Israel bereits Anfang Juli 2021 dazu aufgefordert, sich impfen zu lassen. Die STIKO hingegen lehnte Schwangeren-Impfungen noch bis 10. September ab - um ihre Meinung dann wiederum derjenigen in anderen Teilen der Welt anzugleichen. Auch bei der Impfempfehlung für Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren ließ sich die STIKO Zeit.
Hausarzt Christian Kröner hat schon mehrmals geimpft, ohne die STIKO-Empfehlung abzuwarten: bei Schwangeren und bei Jugendlichen. Es dauerte ihm zu lange. Er orientiert sich an Gremien anderer Ländern wie den USA: "Wir brauchen eigentlich Geschwindigkeit und nicht Perfektion", meint Kröner. "Wenn ich vor einem brennenden Haus stehen, dann sollte ich mir nicht erst mal ein halbes Jahr überlegen, wie ich es am allerbesten lösche, sondern einfach die erste Möglichkeit ergreifen und das Feuer möglichst schnell ersticken."
Feuerwehr statt Brandsachverständige
Zusätzlich wurde die Kommission von der Politik auch noch alleingelassen: "In der Situation einer Pandemie hätte man eine bessere Personalausstattung sicher gut gebrauchen können", bemängelt der STIKO-Vorsitzende Mertens. Vor allem um schneller entscheiden zu können.
Auf Panorama-Anfrage in der Bundespressekonferenz gibt sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn nichtsahnend: "Mir gegenüber hat Prof. Mertens einen Personalbedarf bisher nicht geäußert, wenn das so ist, dann rufe ich ihn gleich an und spreche mit ihm drüber."* Ein spätes Eingeständnis, das fast wie ein schlechter Scherz wirkt. Später erklärt sein Ministerium schriftlich, Spahn stehe "mit dem Vorsitzenden der STIKO regelmäßig im Austausch", die Inhalte seien vertraulich. Und: "Über künftige Haushaltsfragen entscheidet die sich bildende Bundesregierung."
Der Israeli Ronnie Gamzu glaubt, Deutschland brauche ein anderes Notfallmanagement und ein anderes Gremium. Das scheint auch Spahn zu dämmern: "Ja, ich gebe zu, das meine ich nicht wertend, sondern beschreibend: Man muss gucken, ob die STIKO wirklich für die Pandemie aufgestellt ist oder ob man nicht eine Alternative braucht."
Die neue Ampel-Koalition will nun einen Corona-Krisenstab einberufen, der von Bundeswehrgeneral Carsten Breuer geleitet werden soll. Vielleicht schafft es ein "Impfgeneral" ja, aus dem Heer der Brandexperten doch noch eine Feuerwehr zu machen - knapp zwei Jahre nach Pandemiebeginn.
* Beim Zitat von Jens Spahn ist uns leider ein Fehler unterlaufen, den wir korrigiert haben.