Eigenbrötelei: Impfstoff bleibt im Regal liegen
Die Impfungen kommen nicht so schnell voran, wie es möglich wäre. Abhilfe könnte eine Veränderung des Terminmanagement-Systems schaffen. Ein Kommentar von Christian Baars.
Millionen Menschen in Deutschland sind derzeit hochgradig genervt. Sie verbringen etliche Stunden damit, immer wieder überlastete Hotlines anzurufen oder ständig auf Internetseiten zu schauen, ob sie sich jetzt für eine Impfung anmelden können.
Es könnte deutlich leichter sein - und damit auch helfen, schneller Impfwillige und Impfstoff zusammenzubringen. Nötig wäre dafür eine Struktur von regionalen oder lokalen Stellen zur Terminvereinbarung, um den Flaschenhals einer zentralen Hotline zu vermeiden. Dazu ein stabiles und einfach zu bedienendes Onlineportal, im Idealfall ergänzt um eine App zur Registrierung und leicht verständliche Informationen online und per Brief, wer sich gerade anmelden kann und wann damit rechnen kann, dran zu kommen.
Bundesländer gehen eigene Wege
All dies wäre kein Hexenwerk. Doch statt gemeinsam das möglichst beste System aufzubauen oder einzukaufen, hat jedes Bundesland einen eigenen Weg eingeschlagen - und das unter Hochdruck.
Anfang November hatten alle Gesundheitsministerinnen und -minister noch beschlossen, dass der Bund zusammen mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ein einheitliches System entwickeln und allen zur Verfügung stellen solle. Das Vertrauen der Länder, dass dies vernünftig funktioniert, war aber offensichtlich gering. Die wenigsten haben sich darauf verlassen, sondern haben damit angefangen, ein eigenes Termin-Management und Verteilsystem aufzusetzen. Und das - wohlgemerkt - erst im November. Fertig sein sollte es bereits Mitte Dezember.
Keine transparenten Auswahlverfahren
Die Länder haben also innerhalb weniger Wochen entweder versucht, sich selbst eine Lösung zu basteln, oder - wie in den meisten Fällen - private Firmen dafür beauftragt, allerdings in den meisten Fällen ohne ein transparentes Auswahlverfahren, wie etwa in Niedersachsen, wo eine private Firma die komplette Organisation übernommen hat. Aufgrund der "Dringlichkeit" wurde auf Ausschreibungen verzichtet. Warum welches Land sich für welche Lösung entschieden hat, ist meist unklar.
Unverständlich ist dieses Vorgehen insbesondere, weil schon Monate vorher klar war, dass irgendwann ein Impfstoff zur Verfügung stehen wird. Absolut klar war auch, dass dann ein gut funktionierendes System zur Terminvergabe und Verteilung der Impfstoffe nötig ist. Nur leider hat sich offenbar lange Zeit niemand so richtig darum gekümmert.
Und so wurden Ende vergangenen Jahres im Eilverfahren diverse Software-Firmen und Call-Center engagiert, um eine Lösung zu schaffen. In manchen Fällen funktioniert dies nun besser, in vielen eher schlecht. Mecklenburg-Vorpommern - aktuelles Schlusslicht im Länder-Ranking - hat bislang nicht einmal ein Onlineportal zur Anmeldung. Für die Installation einer technischen Plattform fänden derzeit (im März!) Abstimmungsgespräche statt, heißt es aus dem dortigen Ministerium.
Mehr Impfstoff geliefert als gespritzt
Aber das Problem ist nicht nur, dass deshalb viele genervt sind, sondern noch schlimmer: Die Impfungen kommen nicht so schnell voran, wie es möglich wäre. Woche für Woche wird mehr Impfstoff geliefert als gespritzt. Aktuell sind insgesamt etwa vier Millionen vorhandene Dosen noch nicht genutzt. Auch der Vergleich unter den Bundesländern zeigt: Zumindest in einigen Teilen des Landes wäre deutlich mehr möglich. So hat Thüringen bereits 25 Prozent mehr Impfungen geschafft als Mecklenburg-Vorpommern.
Das Chaos könnte sogar noch größer werden. Denn bislang zählt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung zu den "Impfberechtigten". In den ersten drei Monaten der Impfkampagne wurden gut elf Millionen Dosen verabreicht. In den kommenden drei Monaten sollen es mehr als 70 Millionen werden.
Wie kann man Termine fair vergeben?
Klar ist: Solange der Impfstoff knapp ist, müssen die Termine nach fairen und transparenten Regeln vergeben werden. Die einfachste Möglichkeit ist, schlicht nach der Reihenfolge der Anmeldung zu gehen. Das führt aber dazu, dass alle sofort in den ersten Minuten einen Platz in der Warteschlange ergattern wollen, sobald neue Termine für bestimmte Gruppen freigegeben werden. Die Folge ist bekannt: Hotlines und Internetportale kollabieren. Zudem ist ein solches System nicht fair. Wer keinen Computer hat, technisch nicht so fit ist oder nicht stundenlang für eine Wahlwiederholung Zeit hat, hat deutlich schlechtere Chancen.
Eine Alternative wäre, die Termine nach einem Zufallsprinzip zu vergeben - nach klaren Regeln. Alle, die sich registriert haben, sollten nachvollziehen können, warum es im Zweifel bei ihnen etwas länger dauert. Zusätzlich könnte noch die Möglichkeit geschaffen werden, individuelle Härtefälle prüfen zu lassen, um ihnen eine beschleunigte Impfung an der Warteschlange vorbei ermöglichen zu können.
Dezentrale Struktur in den USA
Nötig ist also ein effizientes und leicht zu handhabendes Terminmanagement-System, kombiniert mit einer dezentralen Struktur. So könnte das Tempo beschleunigt werden. Das zeigt auch ein Blick ins Ausland. In den USA gilt der Bundesstaat West Virginia als Vorbild.
Dort können sich alle über 16 Jahre für eine Impfung anmelden. Sie werden informiert, sobald sie an der Reihe sind. Lokale Gruppen und Organisationen kümmern sich um die Verteilung des Impfstoffs und sorgen dafür, dass die Mittel dorthin kommen, wo sie hinsollen - in möglichst viele Oberarme.
Das Gute ist, dass in Deutschland auch bald dezentrale Anlaufstellen in die Impfkampagne einbezogen werden: die rund 50.000 Hausarztpraxen. Es sollte nur jetzt so schnell wie möglich geschehen, um den Stau an nicht genutztem Impfstoff nicht noch größer werden zu lassen.