Immer mehr Impfvordrängler in Führungspositionen
Hunderttausende Menschen haben sich in den vergangenen Wochen die Finger wund gewählt, um einen Impftermin zu ergattern. Doch einige Privilegierte haben den Weg zur Spritze abgekürzt. Und manche inszenieren sich danach als Retter von wertvollen Impfdosen, die sonst weggeworfen würden.
Man kann Peter K. den Ärger noch immer anmerken. "Er hat bewusst beim Gesundheitsamt Leute zum Impfen gemeldet, die überhaupt keinen Kontakt zu den Bewohnern haben", sagt K. "Das ist für mich einfach nicht nachzuvollziehen". Peter K. heißt eigentlich anders. Aus Angst um seinen Job möchte er lieber anonym bleiben. K. arbeitet bei der Hamburger Blindenstiftung, die auch ein Seniorenheim betreibt.
Egal ob Pflegerinnen und Pfleger oder Bewohnerinnen und Bewohner: Viele hier fallen laut Corona-Impfverordnung unter die höchste Priorität und sind insofern unverzüglich mit dem knappen Corona-Impfstoff zu versorgen. Doch als K. und seine Kolleginnen und Kollegen im Januar erfahren, wer in dem Heim alles geimpft werden soll, staunen sie nicht schlecht. Auf den Impflisten steht unter anderem der Geschäftsführer der Stiftung, Marc Thorwesten, der selbst nicht in der Pflege tätig ist. Und auch dessen Sohn, ein junger Mann in den 20er-Jahren. Mitarbeiter berichten, dass er im Haus geringfügig beschäftigt und für die "Digitalisierung" zuständig sein soll. Zudem findet sich auf der Liste Thorwestens Assistentin sowie deren Ehemann, der einen Malerbetrieb leitet und dessen Geselle.
Wie kann das sein? Auf Anfrage des NDR räumt Thorwesten den Sachverhalt ein und liefert folgende Erklärung: Er selbst, sein Sohn und seine Assistentin seien schließlich im Haus "physisch tätig". Das gleiche gelte für den Ehepartner der Assistentin und für dessen Gesellen. Schließlich würden die im Heim regelmäßig Zimmer renovieren. Da die Impfverordnung vorsehe, "dass alle Personen, die in Altenpflegeheimen tätig sind" prioritär geimpft werden sollen, habe man niemanden bevorzugt, "sondern die Impfungen erfolgten ausschließlich an Personen entsprechend der gesetzlichen Regelung".
Weitere Fälle im Norden werfen Fragen auf
Der Fall der Blindenstiftung, über den die "Hamburger Morgenpost" als erstes berichtet hat, ist einer von vielen Fällen, die derzeit im Norden hitzig debattiert werden. Mal ist es die Leitung einer Klinik, mal ein Kommunalpolitiker oder der Chef eines Rettungsdienstes, die in den vergangenen Wochen auf der Impfliste nach vorne rutschten. Und beinahe täglich kommen Fälle hinzu.
Recherchen des NDR zeigen, dass sich auch die Geschäftsführer der Segeberger Kliniken in Schleswig-Holstein bereits impfen ließen. Auf Nachfrage begründet die Geschäftsführerin Marlies Borchert den Schritt mit einer anfänglich geringen Impfbereitschaft unter dem Klinikpersonal, die eine "zügig eingeleitete Umfrage unter allen zur Segeberger Kliniken Gruppe gehörenden Mitarbeitern" zutage gefördert habe. "Wir wollten der grassierenden Impfskepsis dadurch einen positiven Impuls geben", so Borchert weiter. Heute sei die Situation freilich eine andere.
Ein anderer Fall betrifft offenbar das Hamburger Pflegeunternehmen "Pflegen und Wohnen", das in Hamburg 13 Pflegeeinrichtungen unterhält. Quellen berichten dem NDR, dass sich auch hier die Geschäftsführung und Teile der Verwaltung bereits haben impfen lassen, obwohl sie nicht zur obersten Prioritätsgruppe gehören. Auf Nachfrage teilt das Unternehmen mit, man habe den Beschäftigten "ein Impfangebot unterbreitet, die regelhaft in unseren Pflegeeinrichtungen agieren, Pflegekräfte intensiv betreuen oder eben diese Gruppe in zentralen Räumlichkeiten schulen". Dies sei in "Ab- und Übereinstimmung mit der Impfstrategie" geschehen. Konkrete Fragen ließ das Unternehmen unbeantwortet.
Impfdrängler beschädigen Vertrauen
Aus Sicht des Landesvorsitzenden der Ärztegewerkschaft Marburger Bund in Niedersachsen, Andreas Hammerschmidt, sind die Verstöße gegen die Impfreihenfolge in vielfacher Weise problematisch. Nicht zuletzt würden sie das Vertrauen in der Bevölkerung beschädigen, sagte Hammerschmidt im Interview mit Panorama 3. Natürlich könne es am Ende des Tages einmal sein, dass Impfstoff übrigbleibe. Um hier Missbrauch vorzubeugen, seien die jeweiligen Einrichtungen dazu angehalten Telefonlisten zu führen, um Ausfälle auszugleichen. "Wenn sie beispielsweise in einem Krankenhaus nicht eine Krankenschwester oder ein Krankenpfleger als nächstes haben, der an diesem Tag geimpft werden könnte, dann ist es immer noch okay, wenn dann zum Beispiel eine Physiotherapeutin oder ein Physiotherapeut, eine Logopädin oder ein Logopäde jetzt geimpft wird", so Hammerschmidt. Er habe aber kein Verständnis dafür, wenn sich beispielsweise Klinikmanager oder andere Personen ohne Patientenkontakt impfen ließen.
Hamburger Blindenstiftung: Falsch geimpft?
Gesundheitsminister Jens Spahn hatte unlängst angekündigt, Sanktionen für Impfdrängler prüfen zu wollen. Selbst wenn solche Strafen kämen, wäre es wohl im Einzelfall oftmals wohl nur schwer nachzuvollziehen, ob es zu Verstößen gegen die Impfreihenfolge gekommen ist oder nicht. In manchen Fällen scheint dies Experten zufolge aber durchaus möglich zu sein.
Zum Vorgehen der Hamburger Blindenstiftung hat der Jurist Thorsten Kingreen etwa eine klare Meinung. Kingreen ist Sachverständiger im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages. Die Annahme, dass jede Person, die in einem Altenheim tätig ist, mit höchster Priorität Anspruch auf eine Schutzimpfung habe, hält Kingreen für "falsch". Vielmehr gehe es darum das Personal zu impfen, dass "unmittelbaren Patientenkontakt" habe, dies gelte sicherlich nicht für IT-Techniker. Im Interview mit Panorama 3 sagte Kingreen: Jeder, der noch nicht mit dem Impfen an der Reihe sei, müsse wissen, "dass im Moment weiterhin täglich Menschen sterben, weil nicht genügend Impfstoff zur Verfügung steht".
Auf Nachfrage wollte sich die Hamburger Gesundheitsbehörde weder zu dem konkreten Fall, noch zur Gesamtproblematik äußern. Deniz Celik, der für die Linke in der Hamburger Bürgerschaft sitzt, forderte den Senat auf, den Fall aufzuklären. Zudem müsse künftig besser geprüft werden, wer sich in Pflegeeinrichtungen und in Krankenhäusern impfen lasse. Das Vorgehen der Hamburger Blindenstiftung hält Celik für einen klaren Verstoß gegen die Impfverordnung. Den Geschäftsführer der Stiftung, Marc Thorwesten, forderte Celik zum Rücktritt auf.