Flüchtlinge auf Lesbos: Die gewollte Not

Stand: 21.01.2021 10:37 Uhr

Die Zustände im Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos sind katastrophal. Die Bundesregierung wollte helfen - doch die Aufnahme der Menschen nach Deutschland stockt.

von Armin Ghassim und Isabel Schayani

"Wir haben vieles erlebt auf unserer Reise, an den Grenzen. Einige Male haben wir dem Tod in die Augen geblickt. Aber seit ich in diesem Camp bin, weiß ich, das war alles nichts gegen das, was hier passiert. Unsere Kraft ist am Ende. Wir halten dieses Leben nicht mehr aus." Die Afghanin Hadije H. lebt zusammen mit ihrem Sohn seit mehr als einem Jahr auf Lesbos. Zunächst im Flüchtlingslager Moria, jetzt im neuen Lager Kara Tepe. Bisher konnte sie noch nicht in einem Erstgespräch ihren Asylantrag begründen. Manche der Geflüchteten und Migranten sind bereits seit mehreren Jahren auf Lesbos, auch weil sie nicht in ihre Heimatländer oder die Türkei zurückgeführt werden können.

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Zustände weiter katastrophal

Vor vier Monaten war das Flüchtlingslager in Moria abgebrannt. Sechs junge Afghanen sitzen in Untersuchungshaft, beschuldigt, das Feuer gelegt zu haben. Nach dem Brand harrten Tausende Menschen tagelang obdachlos auf der Straße aus. Fast alle weigerten sich zunächst, das neue Lager auf dem ehemaligen Militärgelände Kara Tepe zu beziehen. Sie hatten Angst, dass es keine Übergangs-, sondern eine Dauerlösung würde.

Flüchtlingslager in Kara Tepe © ARD/NDR Foto: Screenshot
Im Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos herrschen katastrophale Zustände.

Seit Monaten mangelt es dort an allem: fließendem Wasser, Strom, warmem Essen. Die Hälfte der Zelte hatte bis kürzlich monatelang keinen Boden. Sommerzelte, ungeeignet für den Winter. Bei Regen sind Teile des Lagers regelmäßig überschwemmt. Erst kürzlich wurden die ersten warmen Duschen aufgestellt - von einer Hilfsorganisation, nicht von den zuständigen Behörden. Einmal die Woche dürfen sich die BewohnerInnen nun dort waschen. Bis dahin mussten sie sich ausschließlich mit kaltem Wasser waschen, bei teilweise einstelligen Temperaturen. Nach Angaben von medizinischen Hilfsorganisationen sind rund 40 Prozent der BewohnerInnen mit Krätze befallen. "Ärzte ohne Grenzen" fordert seit Monaten die Evakuierung des Lagers. Das griechische Migrationsministerium antwortete auf Panorama-Anfrage zu der Situation im Lager nicht.

Strategie der Abschreckung?

Wie kann es sein, dass diese Zustände auch den Winter über herrschen? Noch im November erhielt Griechenland eine zusätzliche Hilfe von über fünf Millionen Euro von der EU, allein für die Infrastruktur in diesem Camp und seine rund 7.500 BewohnerInnen. Insgesamt erhielt das Land seit 2015 knapp drei Milliarden Euro für das Management der Flüchtlingspolitik.

Ein Porträtbild von Gerald Knaus, Vorsitzender des österreichischen Thinktanks Europäische Stabilitätsinitiative (ESI), © Europäische Stabilitätsinitiative (ESI) Foto: Francesco Scarpa
Gerald Knaus ist ein österreichischer Soziologe und Migrationsforscher. Er kritisiert die Migrationspolitik der EU.

Gerald Knaus hat als Experte für Migrationspolitik Deutschland und die EU über Jahre beraten und 2016 den umstrittenen EU-Türkei-Deal konzipiert. Er sagt: "Es fehlt nicht an Geld. Griechenland hat mehr Geld von der EU bekommen als jedes andere Land, für eine relativ kleine Zahl von Geflüchteten. Daher gibt es nur eine logische Folge: Wir müssen annehmen, das ist so gewollt. Es ist eine strategische Entscheidung, genau durch diese Bilder von Menschen, die leiden, andere davon abzuhalten, zu kommen. Das ist derzeit die Politik der Europäischen Union."

Tatsächlich formulierte der Vizeparteichef der konservativen Regierungspartei Nia Dimokratia, Adonis Georgiadis, eine solche Strategie im März letzten Jahres bemerkenswert offen: "Damit sie aufhören zu kommen, müssen sie hören, dass es denen, die hier sind, schlecht geht", sagte er im griechischen Fernsehen. Auf eine Anfrage, wie er die Situation heute auf Lesbos einschätzt und ob er an dieser Aussage festhält, antwortete er nicht.

Aufnahme nach Deutschland stockt

Gerald Knaus sieht die griechische Regierung aber nicht allein in der Verantwortung für die Zustände in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln: "Die entscheidende Frage: Wer unterstützt diese Strategie? Die führt uns nicht nur nach Athen, sondern die führt uns natürlich auch in die Hauptstädte der anderen Mitgliedstaaten."

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) bei einer Pressekonferenz. © dpa bildfunk Foto: Jörg Carstensen
Mal für die Aufnahme von Geflüchteten, mal dagegen: Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU).

Einerseits ärgerte sich Horst Seehofer noch im September öffentlich, nach dem Brand in Moria, über die fehlende Bereitschaft der EU-Länder, gemeinsam mit Deutschland Menschen von den griechischen Inseln aufzunehmen: "Was die Europäische Union bisher da abgeliefert hat, ist für die europäische Idee armselig. Absolut armselig."

Nach tagelangem Koalitionsstreit sagte die Bundesregierung dann zu, 1.553 Menschen von den griechischen Inseln aufzunehmen. Was wurde daraus? Auf Panorama-Anfrage antwortete das Bundesinnenministerium, dass bisher 291 Menschen aus diesem Kontingent aufgenommen wurden - vier Monate nach dem Brand. In diesem Tempo würde es bis 2022 dauern, bis die Zusage erfüllt wird. Das Bundesinnenministerium begründet dies mit der Corona-Pandemie und verweist auf die Zuständigkeit der griechischen Behörden für die Auswahl und Umverteilung der Menschen.

Die griechischen Behörden selbst haben offenbar kein großes Interesse an einer schnellen Verteilung der Menschen, da sie fürchten, dass sich die Lager dann ebenso schnell wieder mit neu ankommenden Menschen füllen würden. So werden die Menschen dort gehalten, auch um andere fernzuhalten.

Andererseits meldete das Ministerium von Horst Seehofer letzte Woche einen Erfolg - weniger Asylbewerber: "Das Erfolgsrezept unserer Migrationspolitik lautet Humanität und Ordnung! Die Zahl der Asylbewerber ist 2020 das vierte Jahr in Folge gesunken. Gleichzeitig haben wir vielen Menschen in Not geholfen und sie aufgenommen. Unsere Maßnahmen wirken. Wir sind auf dem richtigen Weg." Tatsächlich stellen in Deutschland immer weniger Menschen einen Asylantrag, während die Fluchtbewegungen weltweit 2020 einen Höchstwert erreicht haben. Auf Anfrage von Panorama, ob das Bundesinnenministerium einen Zusammenhang zwischen den seit Jahren sinkenden Zahlen und der griechischen Grenzpolitik sehe, antwortete das Bundesinnenministerium, dass der Rückgang der Asylerstantragszahlen auf verschiedene Faktoren zurückzuführen sei: die Situation in den Herkunfts- und Transitländern, das Grenzmanagement und die Rückkehrpolitik Deutschlands und der EU.

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Überschwemmung in dem Flüchtlingslager Kara Tepe © ARD/NDR Foto: Screenshot

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Flüchtlinge auf Lesbos: Die gewollte Not

Der Panorama-Beitrag vom 21. Januar 2021 als PDF-Dokument zum Download. Download (69 KB)

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 21.01.2021 | 21:45 Uhr

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