EU-Flüchtlingspolitik: Der Extremismus der Mitte
Die Forderung, sich von der AfD abzugrenzen, hat man von den Parteien der Mitte zur Genüge gehört. Das Handeln Europas an seiner Außengrenze in Griechenland zeigt jedoch, dass die regierende Mitte wesentliches Gedankengut der Nationalisten in sich aufgenommen hat.
Den politischen Willen Europas zu erkennen, ist diesmal einfach. Er manifestiert sich in eindeutigen Taten. Die griechischen Polizisten bilden eine Phalanx am Grenzübergang und schießen Tränengas auf die Flüchtlinge, die Erdogan von der türkischen Seite her durchgelassen hat. Wer es heimlich über den Zaun oder über den Evros-Fluss schafft, wird gejagt, gefasst und wieder auf die türkische Seite gebracht. Bootsflüchtlinge, die griechische Inseln erreichen, werden von europäischen Zivilisten verprügelt. Die EU-Grenzschutzbehörde Frontex schickt Verstärkung nach Griechenland.
Nicht minder klar zeigt Europa mit Worten, was es politisch will. "Wir können Euch hier nicht aufnehmen“, erklärt Friedrich Merz, CDU, der das "bürgerliche Lager" in Deutschland anführen und Angela Merkel im Amt nachfolgen möchte. Als Begründung reicht es Merz zu sagen, ein "Kontrollverlust" dürfe sich nicht wiederholen. Das ist die kurze Variante der Radikalität, die auf die Frage "Darf man das so machen?" verzichtet.
Demgegenüber unterzieht sich der Europapolitiker Manfred Weber, CSU, den Mühen der Ausführlichkeit. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk leitet er eine rechtliche Begründung für die totale Abriegelung der Außengrenzen her. Auf die Frage, ob man das dürfe, hat er die Anwort "Ja".
Die Hysterie vom "kollektiven Angriff"
Weber beruft sich auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom Februar. Dieser befand es für zulässig, zwei Asylsuchende, einen Malier und einen Ivorer, an der Grenze zwischen Marokko und der spanischen Exklave Melilla zurückzuweisen, ohne sie und ihr Anliegen anzuhören.
Solche Zurückweisungen sind völkerrechtlich verboten. Die Konvention, die dieses Verbot enthält, haben alle EU-Mitgliedstaaten unterschrieben. Der EGMR begründet die Rechtmäßigkeit der Zurückweisung damit, dass die beiden afrikanischen Asylsuchenden versucht hätten, über den Grenzzaun zu klettern. Damit hätten sie die öffentliche Sicherheit und Ordnung gestört.
Diese Begründung nimmt CSU-Politiker Weber auf und überträgt sie auf die Situation an der türkisch-griechischen Grenze. Ein "kollektiver Angriff" auf die europäische Außengrenze finde dort statt. Daher habe die Polizei das Recht, mit Tränengas auf die Herandrängenden zu schießen. Manfred Weber vergleicht die Lage an der Grenze mit Demonstrationen in Deutschland, aus denen heraus Gewalt verübt werde. Auch da habe die Polizei das Recht zu einem robusten Vorgehen.
Ein kollektiver Angriff? Das klingt nach Invasionsarmee. Aber so haben sich die mehr als 10.000 Flüchtlinge, die sich der griechischen Grenze näherten, nicht verhalten. Zuerst erfolgte die Zurückweisung. Dann kam es zu vereinzelten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Flüchtlingen und Polizei. Der weit überwiegende Teil der Schutzsuchenden hingegen enthielt sich jeder Gewalt. Und was ist mit den Familien mit Kindern, die auch dort ausharren? In der Staatsrechtslehre nach Manfred Weber müssen sich alle die Eigenschaft von Teilnehmern an einem kollektiven Angriff zuschreiben lassen.
"Es handelt sich nicht um individuelle Menschen, die sagen, ich möchte jetzt in Griechenland Asyl beantragen", sagt der prominente CSU-Mann in dem Radio-Interview. Deutlicher kann man dem Recht des Einzelnen, ein Schutzbegehren vorzutragen, keine Absage erteilen. Das ist die ausführliche Variante der Radikalität. Sie beruht auf der Schuldumkehr: weil die Migranten "einen kollektiven Angriff" gestartet haben, dürfen sie mit Gewalt zurückgedrängt werden.
Als Menschenrechtler von pro asyl vor sieben Jahren das Zurückdrängen, push backs, von Schutzsuchenden an der türkisch-griechischen Grenze aufdeckten, dementierte die EU die Berichte oder bemühte sich, die Vorgänge als Einzelfälle darzustellen. 2013 waren solche Berichte noch "unangenehm", denn sie implizierten ja einen Rechtsbruch. Innerhalb weniger Jahre ist der Wandel drastisch. Push backs werden weder dementiert noch als bedauerliches Abweichen von der Norm eingestuft. Sie sind die neue allgemeine und in aller Offenheit geübte Praxis an der EU-Außengrenze.
Nationalismus und Extremismus in der Mitte angekommen
Die Politik der radikalen Abschottung wird getragen von den Wortführern der in Europa regierenden Parteien, die sich gern als "Mitte" bezeichnen. Dem nationalistischen Rand signalisieren sie, dass sie sich dessen Forderungen zu eigen gemacht haben. Das Gedankengut von AfD, Front National, Vlaams Belang und FPÖ ist eingegangen in die Politik von CDU und SPD, von Sebastian Kurz und Emmanuel Macron.
Dabei sehen sich diese Politiker und Parteien als staatstragend. Die Frage ist nur, welchen Staat sie tragen. Ist es noch die Demokratie? Es regen sich Zweifel, denn einige dieser Recken der Mitte haben begonnen, das nationalistische Gedankengut bis in das Staatsrecht hinein zu vermitteln.
Demokratie bedeutet, dass grundlegende Rechte wie das auf Leben, Gesundheit und Selbstbestimmung sich nicht auf die engen Grenzen des eigenen Staatsvolks beschränken. Demokratie hat sich aufgegeben, wenn sie diese Rechte den Menschen außerhalb der eigenen Staatsgrenzen abspricht.
Wer die Wohlstandsgewinne der globalisierten und barrierefreien Wirtschaft einheimst, Elend und Verzweiflung hingegen jenseits der scharf bewachten Zäune und Mauern externalisiert, der spielt nur noch Demokratie, in einem ebenso verwöhnten wie weltfremden Kindergarten. Ihre eigentliche Bedeutung hat er entweder vergessen oder sogar nie gelernt.
Wer instrumentalisiert?
Ein beliebtes rhetorisches Mittel in der laufenden Diskussion ist der Verweis auf die "Instrumentalisierung" der Flüchtlinge durch den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Radikale haben sich schon immer dadurch ausgezeichnet, dass sie an sich Richtiges sagen, dabei dieses Richtige aber seines größeren Kontextes konsequent entkleiden.
Seit Jahren vegetieren Zehntausende Geflüchtete in überfüllten Lagern auf den griechischen Ägäis-Inseln. Bei den Kindern dort werden merkwürdige psychosomatische Erscheinungen der Apathie diagnostiziert. Minderjährige begehen Selbstmord. Instrumentalisiert Europa diese Menschen etwa nicht? Doch, sie dienen als lebendige Abschreckung gegen weitere Migration in die Europäische Union. Die Botschaft an die Welt ist: In diesem ausweglosen Lager werdet Ihr enden!
Europa reduziert sich auf den Kleingeist, der die eigene Festung verteidigen will. Der Krieg gegen unbewaffnete und hilflose Migranten erscheint als ein Krieg, den man gewinnen kann. Une guerre à la mesure de l'Europe, wie man auf Französisch sagen würde. Darin mögen manche die Kehrseite einstiger imperialer Größe sehen. Es ist vor allem die Kehrseite jener Ideen, die Europa zwar nicht erfunden, aber stark weiterentwickelt hat und die es auf der ganzen Welt auch beliebt gemacht haben: die Menschenrechte, die Freiheit der Person, die internationale Solidarität.
Krieg in Nordsyrien - Europa schaut weg
Zum größeren Kontext der Krise an der europäischen Außengrenze gehört zweifellos auch die Situation in Idlib. Manche Menschen dort, so belegen Zeugenberichte, haben inzwischen die Gewissheit gewonnen, das Ende der Welt sei gekommen. Mit dem politischen Geschehen in der nordsyrischen Region möchte Europa möglichst nichts zu tun haben. Wer's nicht glaubt, dem mögen die echolosen Rufe des deutschen Außenministers nach einem Waffenstillstand als Beleg dienen.
Dabei ist die historische Verbindung der Region Idlib mit Europa denkbar eng. Dreihundert Jahre vor Dante Alighieri schilderte ihr berühmtester Sohn, der Dichter Abu 'Ala' al-Ma'arri, bereits einen Besuch in der Hölle. Wer weiß, ob er dort nicht, würde er diese Reise demnächst wiederholen, Friedrich Merz, Sebastian Kurz und andere Vertreter der radikalen europäischen Mitte anträfe.
Der Text erschien zuerst auf Qantara.de