Stand: 13.02.2014 06:00 Uhr

Ertrunkene Flüchtlinge: Protokoll einer vermeidbaren Katastrophe

von Stefan Buchen

"Tragödien" im Mittelmeer sind eine vertraute Nachricht: Regelmäßig erfahren wir, dass Flüchtlinge bei dem Versuch ertrinken, nach Europa zu gelangen. Diese Routine wird dann meist von einer folgenlosen politischen Debatte begleitet: Die einen bezichtigen "skrupellose Schleuser", die anderen geben der unnachgiebigen Abriegelungspolitik der EU die Schuld.

VIDEO: Protokoll einer vermeidbaren Katastrophe (10 Min)

Am 20. Januar hat sich in der Ägäis eine Katastrophe ereignet, über die die europäische Politik mit unverbindlichen Grundsatzdebatten nicht hinweggehen kann. Ein Flüchtlingsboot ist in der Nähe der griechischen Insel Farmakonisi gesunken. Zwölf Menschen sind gestorben. Die Opfer sind nicht namen- und gesichtslos: es sind neun Kinder und drei Frauen aus Afghanistan.

Wer trägt die Schuld am Tod von zwölf Menschen?

Mittelmeer und Horizont bei aufkommender Dunkelheit in der Ägäis. © ARD/NDR
Was geschah am 20. Januar vor der griechischen Insel Farmakonisi?

Die Katastrophe ereignete sich in Gegenwart und unter aktiver Beteiligung der griechischen Küstenwache. Ein Patrouillenboot nahm die Flüchtlinge in Schlepptau. Die Operation ging schief. Das Flüchtlingsboot kenterte. Die 16 Überlebenden erheben schwere Vorwürfe gegen die Küstenwache. Das Patrouillenboot habe sich geweigert, die Flüchtlinge an Bord zu nehmen. "Wir haben ihnen gezeigt, dass wir Kinder an Bord haben. Aber sie wollten uns nicht helfen", sagt Sabur Azizi, der seine Frau und seinen zehnjährigen Sohn verloren hat.

Griechenland weist Vorwürfe zurück

Die Überlebenden bezeugen zudem, dass die Küstenwache sie nicht zur nahegelegenen griechischen Insel, sondern zurück in türkische Territorialgewässer schleppen wollte. Aus Sicht von Karl Kopp von der Menschenrechtsorganisation "Pro Asyl" spricht viel dafür, dass dies eine illegale Zurückweisung (eine sogenannte "Push-Back-Aktion") Schutzbedürftiger war, die "den Grenzschützern komplett entglitten ist". Die griechische Küstenwache weist die Vorwürfe zurück und sagt, man habe die Flüchtlinge retten und nach Farmakonisi bringen wollen. "Wir erteilen keine Befehle, in solchen Situationen Migranten zurückzuweisen", sagt Admiral Ioannis Karageorgopoulos im Panorama-Interview. Er bezeichnet die Schilderung einer Push-Back-Operation als "Lüge".

Illegale Zurückweisung Schutzbedürftiger?

Der Vorfall beschäftigt die Spitzen der EU-Bürokratie. Cecilia Malmström, Kommissarin für Inneres, spricht von "schwerwiegenden Vorwürfen" und betont, Zurückweisungen Schutzbedürftiger an der EU-Außengrenze seien illegal und mit den Verpflichtungen der EU unvereinbar. Der Fall stellt die EU-Politik an den Außengrenzen in Frage.

Der Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe, Christoph Strässer, erklärt: "Das schreckliche Bootsunglück vor der griechischen Insel Farmakonisi hat mich mit großer Bestürzung erfüllt. Diese Katastrophe führt erneut in tragischer Weise vor Augen, dass die FRONTEX-koordinierten Grenzschutzaktivitäten dringend verändert werden müssen. Dies ist eine gemeinsame Aufgabe aller Mitgliedsstaaten, nicht nur der Mittelmeeranrainer. Auch Deutschland wird in dieser Frage Verantwortung übernehmen. Grenzschutzeinsätze tragen zwar bereits heute in erheblichem Umfang zur Seenotrettung bei. Dennoch müssen die existierenden Maßnahmen weiter verbessert werden. Zudem gilt es, auf europäischer Ebene Voraussetzungen zu schaffen, dass Flüchtlinge nicht wegen fehlender Einreisepapiere als 'Illegale' behandelt und in eine lebensgefährliche Überfahrt gezwungen werden."

In der Ägäis läuft seit Jahren die gemeinsame Grenzsicherungsoperation "Poseidon Sea", an der die EU-Agentur Frontex und die griechische Küstenwache beteiligt sind. Hauptziel dieser Operation ist, die Einreise sogenannter "irregulärer Migranten"“ zu verhindern.

Dieses Thema im Programm:

Panorama | 13.02.2014 | 21:45 Uhr

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