Ärzte ohne Grenzen über das "neue Moria": "Die Zustände sind schlimm"
Immer mehr Menschen im Flüchtlingslager auf Lesbos werden krank: Ärzte berichten von Erkältungen, Hautinfektionen und Entwicklungsschäden bei vielen der rund 2000 Kinder.
Abdul Azim Sultani rollt eine Schlafmatte zusammen und presst. Kaltes Wasser rinnt aus dem Stoff. Es hat geregnet im Flüchtlingslager auf Lesbos. Auch die Bettdecke ist nass, unter der Sultani mit seiner Frau und seiner acht Monate alten Tochter schläft. Seine Frau hängt die Decke auf eine Leine, die zwischen ihrem Zelt und dem Nachbarzelt gespannt ist, wo sie mit einer weiteren, fünfköpfigen Familie gemeinsam schlafen.
"Ich habe versucht, eine Plastik-Plane zu bekommen, um sie über das Zelt zu ziehen. Aber auch die Hilfsorganisationen konnten mir keine geben. In Moria konnten wir uns wenigstens selbst aus Holz-Paletten einfache Hütten bauen. Auch das dürfen wir hier nicht mehr", erzählt Sultani.
"Die Gesundheit der Menschen ist gefährdet"
Tagelang hatte es geregnet. Teile des Flüchtlingslagers in Kara Tepe waren überschwemmt. Im Internet kursieren Bilder von Menschen, die bei starkem Wind durch kniehohes Wasser waten. Mehr als 7.500 Menschen leben hier, ein Drittel davon Kinder. Das Wasser konnte mittlerweile auch mithilfe der Behörden größtenteils abgepumpt werden. Doch der Winter fängt gerade erst an. Direkt am Meer gelegen, peitscht der Wind nachts immer häufiger durch die Zelte.
"Die Gesundheit der Menschen ist auf vielen verschiedenen Ebenen gefährdet", sagt Katrin Glatz-Brubakk von "Ärzte ohne Grenzen" im Gespräch mit Panorama. Die Kälte und Nässe in den Zelten führten zwangsläufig zu Krankheiten. Typische Winter-Krankheiten, wie etwa Erkältungen oder auch Lungenentzündungen, gebe es hier eben noch häufiger. "Dadurch, dass Corona auch eine Lungenerkrankung ist, befürchtet man natürlich, dass das noch schlimmer werden kann." Von einem effektiven Corona-Schutz könne keine Rede sein.
Hautkrankheiten und Angst vor der Kälte
Hinzu kommt, dass es nach drei Monaten immer noch kein warmes Wasser gibt. Lange konnten sich die Menschen im Meer waschen, doch das lassen die Temperaturen nicht mehr zu. "Sanitäranlagen gibt es nicht. Es gibt Menschen im Lager, die seit drei Monaten nicht geduscht haben. Deswegen ist auch überall die Krätze." Auch Sultanis Tochter leidet seit Monaten unter einer Hautkrankheit, wahrscheinlich Krätze. Die Haut an ihrem Hinterkopf ist verkrustet. Nachts strampele sie und kratze sich, erzählt er.
Mehrere Menschen erfroren in den vergangenen Jahren im Winter in Moria. Jetzt kämpfen die Menschen verzweifelt gegen die Kälte. "Viele versuchen mit den Gaskochern irgendwie ihr Zelt zu heizen. Es ist aber sehr eng. Sie stolpern über die Gasbrenner. Deswegen müssen wir auch zunehmend Brandwunden behandeln." Schon 2016 löste ein Gaskocher einen Brand in Moria aus, bei dem eine Frau und ein Kind starben.
Zeltlager nur ein Provisorium?
Das Zeltlager Kara Tepe soll nur provisorisch sein. Doch ein neues Lager auf Lesbos ist erst für September 2021 angekündigt. Erstmals koordiniert dabei die EU offiziell die Unterbringung von Flüchtlingen auf einer griechischen Insel. Die Kommission verspricht, dass es "kein neues Moria" geben werde. Das neue Camp werde europäischen Standards genügen.
Doch im Heute hilft das wenig. Im Zeltlager, in dem die Menschen überwintern werden, gibt es kein warmes Wasser, Strom nur an wenigen Generatoren, die immer wieder ausfallen und an denen sich die Menschen drängen, um Wasser zu kochen oder ihre Handys zu laden. Das Camp verlassen, etwa um einzukaufen, dürfen die Bewohner und Bewohnerinnen nur noch einmal in der Woche für vier Stunden. Es gibt nur wenige Straßenlampen. Ab 17 Uhr ist es stockfinster, in den Zelten und draußen.
Zudem liegt das Lager auf einem ehemaligen Militär-Übungsplatz. Regelmäßig finden die Bewohner und Bewohnerinnen hier Munition. Solche Schießplätze seien häufig mit Blei kontaminiert, warnt Belkis Wille von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch: "Tausende Migranten auf einen ehemaligen Schießplatz zu bringen, ohne vorab sicherzustellen, dass sie dort keinem giftigen Blei ausgesetzt sind, ist unverantwortlich." Das griechische Migrationsministerium teilt dagegen mit, dass im Lager keine Vergiftungsgefahr bestehe.
Hohe psychische Belastung für Kinder
All diese Umstände seien in hohem Maß belastend, erklärt Katrin Glatz-Brubakk, die als Kinderpsychologin für "Ärzte ohne Grenzen" schon neun Mal in den letzten Jahren zunächst in Moria und nun in Kara Tepe war. "Ich habe die Entwicklung gesehen. Die Kinder, die ich jetzt treffe, denen geht es immer schlechter. Sie leiden unter Alpträumen, Panikattacken. Sie können nicht schlafen. Sie spielen nicht mehr. Ich habe gestern mit einem Mädchen gesprochen. Die hat ganz aufgehört zu reden und geht auch nicht mehr aus dem Zelt raus. Das schädigt die Entwicklung der Kinder, auch auf lange Sicht."
In Deutschland wären die Bundesländer bereit, mehr als doppelt so viele Geflüchtete aus Lesbos aufzunehmen wie die Bunderegierung zugesagt hat. 3.709 statt der bisher 1.553, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen hervorgeht. Doch Bundesinnenminister Seehofer (CSU) verweist darauf, dass Asylpolitik Sache des Bundes ist. Zu weiteren Aufnahmen aus Griechenland sei man nur bereit, wenn die EU gemeinsam vorgeht.