Flüchtlinge: Behörden verschleppen Familiennachzug
Aktuell beträgt die Wartezeit für den Familiennachzug von Flüchtlingen zum Teil mehrere Jahre. Olaf Scholz will dies "schnell und zügig" ändern.
J. Amiri* hat Todesangst um seine Frau und seinen Sohn in Afghanistan. "Ich fürchte, dass als nächstes die Taliban von Haus zu Haus gehen und ihr Versteck finden", sagt Amiri. Was dann passiert? Er will es sich lieber nicht vorstellen. Hilflos, hoffnungslos, vergessen, so fühlt er sich. Denn eigentlich hätte seine Familie längst in Deutschland sein können und müssen, lange vor der Machtübernahme der Taliban.
Amiri, der eigentlich anders heißt, hat jahrelang in leitender Position für die UNO in Kabul gearbeitet, wurde dadurch zur Zielscheibe der Taliban. Als er 2019 für eine Konferenz nach Deutschland kam, beantragte er Asyl und wurde als verfolgter Flüchtling anerkannt. Damit hat er das Recht, seine Frau und seinen Sohn nach Deutschland nachzuholen. Doch seit fast zwei Jahren warten die beiden darauf, überhaupt einen Termin zu bekommen, um den Familiennachzug zu beantragen. Jetzt sitzt seine Frau mit dem zweieinhalbjährigen Sohn in Kabul fest und fürchtet um ihr Leben. "Sie fühlt sich einfach nur hilflos", sagt Amiri.
Der Schutz der Familie ist in Deutschland im Grundgesetz verankert. Menschen, denen in Deutschland Asyl- oder Flüchtlingsschutz gewährt wurde, haben einen Rechtsanspruch, ihre Ehepartner und minderjährigen Kinder nachzuholen. Kinder dürfen ihre Eltern nachholen.
4.000 Menschen allein in Afghanistan auf der Warteliste
Aktuell ziehen sich die Bearbeitungszeiten in den zuständigen deutschen Botschaften aber häufig über mehrere Jahre hin, auch in Kriegs- und Krisengebieten wie Afghanistan. Allein in diesem Land sind nach Auskunft des Auswärtigen Amtes über 4.000 Menschen seit bis zu zwei Jahren auf der Warteliste für einen Termin, um überhaupt ihre Unterlagen einreichen zu können. Aufgrund der Verschleppung sind sie nun unter Taliban-Herrschaft geraten - wie die Familie von Amiri.
Im Interview mit Panorama hat SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz nun Verbesserungen bei der Visabearbeitung für den Familiennachzug anerkannter Flüchtlinge in Aussicht gestellt. Es müsse darum gehen, Strukturen zu schaffen, um "auch diese Aufgabe schnell und zügig lösen" zu können. Dies sei "eine große Modernisierung, die wir in Deutschland brauchen, die aber auch unmittelbar dazu beiträgt, dass wir humanitäre Verpflichtungen, die wir gerne auf uns nehmen, auch erfüllen können."
Lange Wartezeiten und kaum erfüllbare Forderungen
Auch in Botschaften, in denen vor allem Familienangehörige aus Syrien, dem Irak oder Eritrea auf den Nachzug warten, liegen die Wartezeiten für einen Termin nach Panorama-Recherchen bei weit über einem Jahr. Zudem fordern deutsche Behörden häufig Unterlagen, die für die Betroffenen sehr schwierig oder überhaupt nicht zu bekommen sind. Bei eritreischen Ehepartnern etwa werden oft staatliche Heiratsurkunden verlangt, obwohl solche Urkunden in Eritrea regelmäßig nicht von Behörden ausgestellt werden, sondern von Kirchen.
Dabei legt die EU-Richtlinie zum Recht auf Familienzusammenführung in Artikel 11 klar fest, dass eine Familienzusammenführung nicht scheitern darf, weil keine "amtlichen Unterlagen" vorliegen. Laut Gerichtshof der EU gibt das dabei keinen Ermessensspielraum für die Mitgliedsstaaten, auch weil es für Flüchtlinge oft gefährlich oder unmöglich sei, "offizielle Dokumente" zu beschaffen. Deutsche Botschaften lehnen nach Panorama-Recherchen dennoch regelmäßig Anträge mit kirchlichen Heiratsurkunden ab - selbst wenn etwa eine gemeinsame Elternschaft per DNA-Test nachgewiesen ist.
Die Ankündigung von Olaf Scholz, die Prozesse zu beschleunigen, ist insofern bemerkenswert, als das SPD-geführte Auswärtige Amt hauptverantwortlich für die Wartezeiten und bürokratischen Anforderungen ist. Außenminister Heiko Maas stand für ein Interview mit Panorama nicht zu Verfügung. Schriftlich räumte das Auswärtigen Amt auf Panorama-Nachfrage ein, dass es sich den Schwierigkeiten bewusst sei, insbesondere was die Familienzusammenführung zu eritreischen und afghanischen Schutzberechtigten angeht. "Die Visastellen der deutschen Auslandsvertretungen in den betroffenen Regionen sind angewiesen, den gesetzlich eingeräumten Ermessensspielraum bei der Bewertung des Sachvortrags und der beigebrachten Unterlagen umfassend auszunutzen und nach Möglichkeit auch Wege alternativer Glaubhaftmachung zu nutzen, soweit das Aufenthaltsgesetz dies ermöglicht." Ein pauschaler Verzicht auf Urkunden zu Identität oder Verwandtschaft sei im Visumverfahren jedoch rechtlich nicht möglich.
Habeck fordert mehr Botschaftspersonal
Auch Robert Habeck (Bündnis 90/ Die Grünen) fordert eine Beschleunigung der Verfahren zum Familiennachzug bei anerkannten Flüchtlingen. Zum einen müsse dies durch die Aufstockung des Personals in der Visabearbeitung erreicht werden. Zum anderen müsse es möglich gemacht werden, Anträge auch digital zu stellen, um Familienangehörigen Zeit, Ressourcen und zum Teil lebensgefährliche Reisen zu ersparen. Afghanische Familienangehörige zum Beispiel müssen seit Jahren etwa nach Pakistan oder Indien reisen, um überhaupt Unterlagen einzureichen, da weder die deutsche Botschaft in Kabul Visaanträge bearbeitet noch ein Goethe-Institut existiert, um notwendige Sprachtests abzulegen. Aktuell sind solche Reisen für Afghaninnen und Afghanen kaum möglich.
Das Auswärtige Amt teilte mit, dass es für Afghaninnen und Afghanen angesichts der aktuellen Situation eine möglichst zeitnahe Möglichkeit zur Beantragung bereitstellen wolle. Allerdings weiterhin außerhalb Afghanistans. Dafür seien die Botschaften in den Nachbarstaaten personell aufgestockt worden. Man arbeite an einer Möglichkeit, online Anträge zu stellen, allerdings müssten die Antragssteller trotzdem persönlich zu einem Termin erscheinen, "zur gesetzlich vorgeschriebenen Abnahme der Fingerabdrücke".
Ende der Obergrenze für subsidiär Geschützte möglich
Offen ist zudem, was aus der der Obergrenze von 1.000 Personen pro Monat beim Familiennachzug für subsidiär Geschützte wird, also für die Menschen, denen weder Flüchtlingsschutz noch die Asylberechtigung gewährt wird, denen aber in ihrem Herkunftsland ernsthafter Schaden droht. Bei den letzten Koalitionsverhandlungen 2017/18 war dies ein zentrales Streitthema. Damals hatten sich zuerst die Grünen in den Jamaika-Verhandlungen und später die SPD vehement gegen eine Beschränkung des Rechts auf Familiennachzug gewehrt. Die Große Koalition einigte sich letztlich auf eine Obergrenze von 1.000 Familiennachzügen pro Monat, also 12.000 im Jahr. Selbst diese Zahl wurde im vergangenen Jahr nicht annährend erreicht. Das Auswärtige Amt stellte nur weniger als halb so viele Visa für subsidiär Geschützte (5.271) aus.
*Name von der Redaktion geändert.