Familiennachzug: Aufruhr unter Flüchtlingen
Es fällt dem jungen Waled schwer, über seine Eltern zu sprechen. Denn sie sind nicht da. Gemeinsam mit seinen Geschwistern sitzt der 15-Jährige im Wohnzimmer seines Vormundes, Günter Gottwald, in Bordesholm. Waled nennt seinen Vormund liebevoll Papa. Seit knapp zwei Jahren betreut Günter Gottwald den Jungen und versucht, die Eltern des syrischen Flüchtlings nach Deutschland zu holen. Anfangs dachte Gottwald noch, das bedeute etwas Papierkram. Dass es fast eine Lebensaufgabe werden würde, das hätte er nicht gedacht.
Waleds Eltern dürfen kommen - und sitzen doch fest
Waled ist anerkannter Flüchtling, gemeinsam mit seinem älteren Bruder flüchtete er mit dem Boot und über Land bis nach Deutschland, das war im November 2015. Auf der Flucht wurden die Eltern und die Kinder getrennt, die Mutter Jamila und sein Vater Mohammad sowie ein weiterer Bruder sitzen in Griechenland fest. Günter Gottwald beantragte eine Familienzusammenführung. Dies ist nach der DUBLIN-Verordnung auch möglich. Bis der Antrag entschieden wird, kann es Monate dauern. Auch im Fall von Waled vergingen Monate, in denen nicht klar war, ob seine Eltern kommen dürfen. Doch dann kam das positiv entschiedene Übernahmeersuchen. Seine Eltern dürfen kommen.
Behördliches Versagen in Griechenland und Deutschland
Das war im April dieses Jahres, seitdem ist nichts passiert. Eigentlich sollten Familienangehörige innerhalb von sechs Monaten von Griechenland nach Deutschland überstellt werden. Doch diese Frist ist längst abgelaufen. Und nicht nur im Fall des 15-jährigen Waled. Recherchen von Panorama 3 belegen: es gibt unzählige Fälle, wo eigentlich ein Rechtsanspruch für eine Familienzusammenführung vorliegt, aber nichts passiert. In Griechenland herrscht zwar Chaos im Asylsystem, Zuständigkeiten sind unklar, aber die griechischen Behörden sind nicht alleine verantwortlich. Auch die deutschen Behörden tun nichts, beklagt Günter Gottwald: "Die Behörden hier, insbesondere das Bundesministerium für Migration, BAMF, ist ein schwarzes Loch. Ich erreiche niemanden per Telefon, diverse Einschreiben per Post werden nicht beantwortet und niemand kann mir sagen, wie es weitergeht."
Wird die Zusammenführung gezielt verzögert?
So ergeht es auch Jihad Aleko. Der 39-jährige, anerkannte Flüchtling wartet seit zwei Jahren auf seine Frau und die drei Kinder. Er lebt im schleswig-holsteinischen Klixbüll. Sein Betreuer Sieghard Rathke ärgert sich, man bekomme niemanden ans Telefon "und hier gehen die Menschen kaputt". Inzwischen sind Jihads Frau und seine Kinder innerhalb Griechenlands dreimal in verschiedenste Lager umgezogen, und jedes Mal wieder ändern sich die Zuständigkeiten. Dieses Chaos scheint offenbar gewollt zu sein. In einem Brief des griechischen Ministers für Migration an Bundesinnenminister Thomas de Maizière vom Mai dieses Jahres heißt es, die Familienzusammenführung laufe langsamer wie vereinbart.
Ministerium bestreitet Absprachen
Das Bundesinnenministerium bestreitet, dass es eine Vereinbarung zwischen Thomas de Maizière und dem griechischen Minister gegeben habe. Das Ministerium teilt uns mit: "Mehrfach hat die Bundesregierung darauf hingewiesen, dass Überstellungen angesichts des enormen Koordinierungsaufwandes und der teilweise begrenzten Unterbringungs- und Beförderungskapazitäten einen längeren organisatorischen Vorlauf und eine enge Abstimmung mit der griechischen Asylbehörde erfordern. (...) Für die schwankenden Überstellungszahlen sind teilweise objektive Umstände verantwortlich, auf die die Bundesregierung keinen Einfluss hat. So stehen bspw. in der Feriensaison weniger freie Flugplätze, die für Überstellungen genutzt werden könnten, zur Verfügung, da diese durch Touristen in Anspruch genommen werden. Auch die personellen Ressourcen in Griechenland sind in der Sommerzeit rückläufig und können neben anderen Faktoren zeitweise zu geringeren Überstellungszahlen führen."
Lesbos: Überfüllte Lager, kaum Entlastung
Für die Familien heißt das trotzdem: weiter warten. Günter Gottwald sagt, er habe das Vertrauen in die Behörden verloren. Traurig mache ihn besonders, wenn er Waled immer wieder sagen muss, dass seine Eltern nicht kommen können. Das seien immer schwierige und sehr emotionale Momente, sagt er. Zumal die Lage in Griechenland derzeit angespannt ist. In den Lagern auf den Inseln kommen täglich neue Flüchtlinge an, darunter immer mehr Frauen und Kinder. Schon jetzt sind die Hot Spot Lager auf Lesbos heillos überfüllt. Um eine Entlastung vor Ort zu erreichen, müssten die geflüchteten Menschen, die bereits nach Deutschland dürfen, zügig überstellt werden. Nach Angaben des BMI steht dieser Rechtsanspruch aktuell etwa 4.000 Menschen zu. 4.000 Menschen, die sofort nach Deutschland dürfen und es doch nicht können.