Der Nachbar ein NS-Verbrecher: was nun?
Nordstemmen bei Hildesheim, ein kleiner Klinkerbahnhof, ein paar Geschäfte, 12.000 Einwohner. Eigentlich war alles immer ruhig hier, beschaulich. Doch seit kurzem gibt es große Aufregung um einen der ältesten Einwohner: Karl M., in Nordstemmen geboren, angesehenes Gemeindemitglied, ist einer der letzten noch lebenden NS-Kriegsverbrecher. Das wissen jetzt alle. Grund ist eine Panorama-Sendung.
Beteiligung an Massaker
M. war 1944 beteiligt an einem Massaker an 86 unschuldigen Zivilisten im nordfranzösischen Ascq. In Frankreich wurde er dafür in Abwesenheit zum Tode verurteilt, aber von Deutschland nie ausgeliefert. Im November 2018 ist er vor Neonazis aufgetreten, hat bei einem "Zeitzeugenvortrag" Autogramme gegeben. In dem Interview mit Panorama zeigte der 96-Jährige keinerlei Reue, mehr noch: Er wünschte sich einen Diktator wie Hitler an die Macht zurück und stellte das Ausmaß des Holocausts infrage.
Wie unter einer Lupe lässt sich in diesem Städtchen eine Debatte beobachten, die in Deutschland auch 2019 so aktuell ist wie je. Wie gehen wir um mit der NS-Vergangenheit? Was tun, wenn die Täter von damals alt werden, ja was, wenn es bald keine mehr gibt? Während politische Kräfte erstarken, die die Nazizeit als "Fliegenschiss" in der deutschen Geschichte bezeichnen, endlich einen Schlussstrich ziehen wollen?
Vergangenheit war bekannt
Noch kurz vor der Panorama-Sendung hatte man Karl M. in Nordstemmen für seine Verdienste im Kultur- und Heimatverein ausgezeichnet, ihm öffentlich eine Belobigung überreicht. Hatte man nichts gehört von seiner Vergangenheit? Ganz so war es nicht. Die Mitglieder des Heimatsvereins wussten, dass Karl M. ein verurteilter Kriegsverbrecher ist. Als es 2015 zu erneuten Ermittlungen kam, man M. aber aufgrund der Verjährung nicht noch einmal anklagen konnte, sahen sie darin eine Art Freispruch. "Die Ermittlungen wurden eingestellt", sagt Rolf Müller, Vorsitzender des Kultur- und Heimatvereins. Auch Kornelia Netenjakob, ebenfalls Vereinsmitglied, erinnert sich: "Er selbst hat gesagt, er habe nichts gemacht, er hat seine Version erzählt."
Eine falsche Version, denn das französische Urteil war rechtskräftig, die ermittelnde Staatsanwaltschaft Celle hatte ausreichend Hinweise darauf, dass M. am Massaker beteiligt war. Geehrt wurde M. dennoch. "Die Belobigung wurde ausgesprochen für seine Verdienste, die er in den letzten Jahren für die Geschichtswerkstatt und Kultur- und Heimatverein geleistet hat", so Netenjakob. Über die Nazi-Vergangenheit von Karl M. wurde schlicht nicht diskutiert in Nordstemmen. Niemand hat näher nachgefragt.
"Unbelehrbarer alter Mann"
Dabei dürfte die Gesinnung, die M. im Panorama-Interview gezeigt hat, nicht jeden überrascht haben: "Ich kann nicht ausschließen, dass da auch mal ein Satz gefallen ist, den man heute nicht so stehen lassen würde", sagt Rolf Müller. "Es ging schon mal darum, ob das mit den Juden, mit den Zahlen so richtig ist", erinnert er sich. "Aber das war auch müßig, da nun gegen anzugehen." Es wurde abgetan als "unbelehrbarer alter Mann". Und: Man sei einfach nicht davon ausgegangen, dass er das auch öffentlich sagt.
Doch jetzt, nachdem M. seine Ansichten zuerst vor Neonazis und dann einem Millionenpublikum im Fernsehen präsentiert hat, scheint ein Ignorieren nicht mehr möglich. Viele sind schockiert. Der Kultur- und Heimatverein hat die Belobigung zurückgezogen, Karl M. als Mitglied ausgeschlossen. "Dass er diese Äußerung öffentlich getan hat, was da für ein Geist rübergekommen ist, das war der Grund für den Ausschluss", sagt Kornelia Netenjakob. Der Gemeinderat von Nordstemmen hat eine Resolution verabschiedet, in der er die Aussagen von M. verurteilt. Und Lutz Loebel, Gemeinderatsmitglied von den Grünen, hat den Mann angezeigt - wegen Volksverhetzung. "Ich war empört und entsetzt, dass so ein Mensch hier unbehelligt gelebt hat", sagt der Lokalpolitiker, "dass so jemand 70 Jahre lang davongekommen ist."
Geteilte Ansichten
Doch das Städtchen scheint in dieser Frage gespalten. Bernhard Flegel, der Ortsbürgermeister, CDU, verurteilt zwar die Äußerungen von Karl M., würde die Sache aber gerne nicht "so hochziehen". Am Ende brächte man Neonazis noch auf falsche Gedanken, schaffe einen Märtyrer. Und auch viele Einwohner können die Aufregung nicht verstehen: "Also ich finde, das ist ein alter Mann und den soll man doch in Ruhe lassen", sagt ein Mann auf der Straße. "Sicher hat er auch was gemacht, sich was zu Schulden kommen lassen, aber ich finde, den soll man in Ruhe sterben lassen." Ein anderer findet die Debatte "lächerlich, nach 70 Jahren". Regelrecht wütend sind Nachbarn von Karl M., weil man den netten Herrn von nebenan mit seiner Vergangenheit belästigt. "Die Gedanken sind frei", sagt einer, "es ist eben seine Meinung."
Dem widerspricht Kornelia Netenjakob vom Heimatverein vehement. Dieses Verhalten erinnere sie an die Nachkriegszeit, als Aufklärer von allen Seiten Widerstand erfuhren, weil man eben nicht so gerne über die dunklen Zeiten sprechen wollte. "Wir haben 2019 und sind in manchen Dingen immer noch nicht weiter", sagt sie. Die Vergangenheit einfach unter den Teppich zu kehren, das sei für sie keine Option mehr. Dafür seien die Äußerungen von Karl M. zu schockierend. "Es ist eine anstrengende Arbeit, zu sagen: Uns ist es nicht egal. Der darf nicht sagen, was er will!" Aber man müsse sie leisten.
Auch Lutz Loebel will keinen Schlussstrich ziehen unter diese Debatte. "Weil es mir nicht zusteht", sagt er. "Solange es noch Opfer und Hinterbliebene dieser geschichtlichen Ereignisse gibt, ist es anmaßend zu sagen: Schluss jetzt. Es ist eine Frechheit."