Stand: 24.01.2019 21:45 Uhr

Der Nachbar ein NS-Verbrecher: was nun?

von Robert Bongen, Julian Feldmann & Fabienne Hurst

Nordstemmen bei Hildesheim, ein kleiner Klinkerbahnhof, ein paar Geschäfte, 12.000 Einwohner. Eigentlich war alles immer ruhig hier, beschaulich. Doch seit kurzem gibt es große Aufregung um einen der ältesten Einwohner: Karl M., in Nordstemmen geboren, angesehenes Gemeindemitglied, ist einer der letzten noch lebenden NS-Kriegsverbrecher. Das wissen jetzt alle. Grund ist eine Panorama-Sendung.

VIDEO: Der Nachbar ein NS-Verbrecher: was nun? (8 Min)

Beteiligung an Massaker

M. war 1944 beteiligt an einem Massaker an 86 unschuldigen Zivilisten im nordfranzösischen Ascq. In Frankreich wurde er dafür in Abwesenheit zum Tode verurteilt, aber von Deutschland nie ausgeliefert. Im November 2018 ist er vor Neonazis aufgetreten, hat bei einem "Zeitzeugenvortrag" Autogramme gegeben. In dem Interview mit Panorama zeigte der 96-Jährige keinerlei Reue, mehr noch: Er wünschte sich einen Diktator wie Hitler an die Macht zurück und stellte das Ausmaß des Holocausts infrage.

Nordstemmen bei Hildesheim © NDR Foto: Screenshot
Der Umgang mit einem NS-Verbrecher beschäftigt den Ort Nordstemmen in Niedersachsen.

Wie unter einer Lupe lässt sich in diesem Städtchen eine Debatte beobachten, die in Deutschland auch 2019 so aktuell ist wie je. Wie gehen wir um mit der NS-Vergangenheit? Was tun, wenn die Täter von damals alt werden, ja was, wenn es bald keine mehr gibt? Während politische Kräfte erstarken, die die Nazizeit als "Fliegenschiss" in der deutschen Geschichte bezeichnen, endlich einen Schlussstrich ziehen wollen?

Vergangenheit war bekannt 

Noch kurz vor der Panorama-Sendung hatte man Karl M. in Nordstemmen für seine Verdienste im Kultur- und Heimatverein ausgezeichnet, ihm öffentlich eine Belobigung überreicht. Hatte man nichts gehört von seiner Vergangenheit? Ganz so war es nicht. Die Mitglieder des Heimatsvereins wussten, dass Karl M. ein verurteilter Kriegsverbrecher ist. Als es 2015 zu erneuten Ermittlungen kam, man M. aber aufgrund der Verjährung nicht noch einmal anklagen konnte, sahen sie darin eine Art Freispruch. "Die Ermittlungen wurden eingestellt", sagt Rolf Müller, Vorsitzender des Kultur- und Heimatvereins. Auch Kornelia Netenjakob, ebenfalls Vereinsmitglied, erinnert sich: "Er selbst hat gesagt, er habe nichts gemacht, er hat seine Version erzählt."

Rolf Müller, Vorsitzender des Heimat- und Kulturvereins © NDR Foto: Screenshot
Rolf Müller, Vorsitzender des Kultur- und Heimatvereins, erinnert sich, dass Karl M. die Zahl der ermordeten Juden auch mal anzweifelte.

Eine falsche Version, denn das französische Urteil war rechtskräftig, die ermittelnde Staatsanwaltschaft Celle hatte ausreichend Hinweise darauf, dass M. am Massaker beteiligt war. Geehrt wurde M. dennoch. "Die Belobigung wurde ausgesprochen für seine Verdienste, die er in den letzten Jahren für die Geschichtswerkstatt und Kultur- und Heimatverein geleistet hat", so Netenjakob. Über die Nazi-Vergangenheit von Karl M. wurde schlicht nicht diskutiert in Nordstemmen. Niemand hat näher nachgefragt. 

"Unbelehrbarer alter Mann"

Dabei dürfte die Gesinnung, die M. im Panorama-Interview gezeigt hat, nicht jeden überrascht haben: "Ich kann nicht ausschließen, dass da auch mal ein Satz gefallen ist, den man heute nicht so stehen lassen würde", sagt Rolf Müller. "Es ging schon mal darum, ob das mit den Juden, mit den Zahlen so richtig ist", erinnert er sich. "Aber das war auch müßig, da nun gegen anzugehen." Es wurde abgetan als "unbelehrbarer alter Mann". Und: Man sei einfach nicht davon ausgegangen, dass er das auch öffentlich sagt. 

Lutz Loebel © NDR Foto: Screenshot
Lutz Loebel, Gemeinderatsmitglied von den Grünen, möchte keinen Schlussstrich unter diese Debatte ziehen.

Doch jetzt, nachdem M. seine Ansichten zuerst vor Neonazis und dann einem Millionenpublikum im Fernsehen präsentiert hat, scheint ein Ignorieren nicht mehr möglich. Viele sind schockiert. Der Kultur- und Heimatverein hat die Belobigung zurückgezogen, Karl M. als Mitglied ausgeschlossen. "Dass er diese Äußerung öffentlich getan hat, was da für ein Geist rübergekommen ist, das war der Grund für den Ausschluss", sagt Kornelia Netenjakob. Der Gemeinderat von Nordstemmen hat eine Resolution verabschiedet, in der er die Aussagen von M. verurteilt. Und Lutz Loebel, Gemeinderatsmitglied von den Grünen, hat den Mann angezeigt - wegen Volksverhetzung. "Ich war empört und entsetzt, dass so ein Mensch hier unbehelligt gelebt hat", sagt der Lokalpolitiker, "dass so jemand 70 Jahre lang davongekommen ist." 

Geteilte Ansichten 

Doch das Städtchen scheint in dieser Frage gespalten. Bernhard Flegel, der Ortsbürgermeister, CDU, verurteilt zwar die Äußerungen von Karl M., würde die Sache aber gerne nicht "so hochziehen". Am Ende brächte man Neonazis noch auf falsche Gedanken, schaffe einen Märtyrer. Und auch viele Einwohner können die Aufregung nicht verstehen: "Also ich finde, das ist ein alter Mann und den soll man doch in Ruhe lassen", sagt ein Mann auf der Straße. "Sicher hat er auch was gemacht, sich was zu Schulden kommen lassen, aber ich finde, den soll man in Ruhe sterben lassen." Ein anderer findet die Debatte "lächerlich, nach 70 Jahren". Regelrecht wütend sind Nachbarn von Karl M., weil man den netten Herrn von nebenan mit seiner Vergangenheit belästigt. "Die Gedanken sind frei", sagt einer, "es ist eben seine Meinung." 

Dem widerspricht Kornelia Netenjakob vom Heimatverein vehement. Dieses Verhalten erinnere sie an die Nachkriegszeit, als Aufklärer von allen Seiten Widerstand erfuhren, weil man eben nicht so gerne über die dunklen Zeiten sprechen wollte. "Wir haben 2019 und sind in manchen Dingen immer noch nicht weiter", sagt sie. Die Vergangenheit einfach unter den Teppich zu kehren, das sei für sie keine Option mehr. Dafür seien die Äußerungen von Karl M. zu schockierend. "Es ist eine anstrengende Arbeit, zu sagen: Uns ist es nicht egal. Der darf nicht sagen, was er will!" Aber man müsse sie leisten.

Auch Lutz Loebel will keinen Schlussstrich ziehen unter diese Debatte. "Weil es mir nicht zusteht", sagt er. "Solange es noch Opfer und Hinterbliebene dieser geschichtlichen Ereignisse gibt, ist es anmaßend zu sagen: Schluss jetzt. Es ist eine Frechheit."

 

Weitere Informationen
Karl M. © NDR Foto: Screenshot

Ermittlungen gegen ehem. SS-Mann Karl M. eingeleitet

Das Panorama-Interview hat für den ehemaligen SS-Mann Karl M. juristische Konsequenzen - die Staatsanwaltschaft Hildesheim hat Ermittlungen aufgenommen, u.a. wegen Volksverhetzung. mehr

Karl M. © NDR Foto: Screenshot

Interview mit NS-Verbrecher: "Ich bereue nichts!"

Der SS-Mann Karl M. war 1944 an der Ermordung von 86 Zivilisten beteiligt. Er wurde in Frankreich verurteilt - entzog sich jedoch der Bestrafung. Reue kennt er bis heute nicht. mehr

Leibstandarte-SS Adolf Hitler © picture alliance / IMAGNO/Austri Foto: Austrian Archives

NS-Täter erhalten weiterhin Opferrente

NS-Täter können auch weiterhin eine sogenannte Opferrente beziehen, eine Gesetzesänderung dazu ist nicht geplant. Das geht aus einer Anfrage des Abgeordneten Volker Beck hervor. mehr

Hilde M.

Alltag Holocaust: KZ-Aufseherin erinnert sich

Ein Interview der Gedenkstätte Bergen-Belsen löst neue Ermittlungen gegen eine KZ-Aufseherin aus. Die 93-Jährige soll 1945 einen Todesmarsch begleitet haben. mehr

mutmaßlicher NS Verbrecher Siert B. © Yad Vashem

Nazi-Mord: Justiz wacht nach 68 Jahren auf

Siert B. soll einen holländischen Widerstandskämpfers erschossen haben - doch die deutsche Justiz stellte die Ermittlungen ein. Denn solche Erschießungen wurden nur als Totschlag gewertet - und der verjährt. mehr

Luftaufnahme des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme. © dpa-Bildfunk

Holocaust - Die Lüge von den ahnungslosen Deutschen

"Vom Holocaust haben wir nichts gewusst". Die Nachkriegs-Ausrede vieler Deutscher: eine Lebenslüge. Denn viele jubelten nicht nur Hitler zu, sondern halfen auch, die KZs zu füllen - durch gezielte Denunziationen. mehr

mutmaßlicher NS Verbrecher Siert B. © Ralf Hoogestraat Foto: Ralf Hoogestraat

Prozess gegen früheren SS-Mann eingestellt

Das Landgericht Hagen hat den Prozess gegen den früheren SS-Mann Siert B. eingestellt - aus Mangel an Beweisen. Das Mordmerkmal der Heimtücke habe sich 69 Jahre nach der Tat nicht mehr nachweisen lassen. mehr

Downloads

Der Nachbar ein NS-Verbrecher: was nun?

Der Panorama-Beitrag vom 24. Januar 2019 als PDF-Dokument zum Download. Download (133 KB)

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 24.01.2019 | 21:45 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

NS-Zeit

Rechtsextremismus

Zweiter Weltkrieg

Es fehlt etwas?

Computertastatur © picture-alliance Foto: Christian Ohde

Kontakt zur Redaktion

Sie vermissen einen Beitrag oder ein Video ist nicht abspielbar? Schreiben Sie uns, wir kümmern uns darum. mehr

Weitere Informationen

Kalender © Fotolia.com Foto: Barmaliejus

Panorama-Geschichte

Als erstes politisches Fernsehmagazin ging Panorama am 4. Juni 1961 auf Sendung. Die Geschichte von Panorama ist auch eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. mehr

Anja Reschke © Thomas & Thomas Foto: Thomas Lueders

60 Jahre Panorama

60 Jahre investigativ - unbequem - unabhängig: Panorama ist das älteste Politik-Magazin im deutschen Fernsehen. mehr

Panorama 60 Jahre: Ein Mann steht hinter einer Kamera, dazu der Schriftzug "Panorama" © NDR/ARD Foto: Screenshot

Panorama History Channel

Beiträge nach Themen sortiert und von der Redaktion kuratiert: Der direkte Einstieg in 60 Jahre politische Geschichte. mehr