Ohne Erbarmen: Wie Gewaltopfer von Behörden schikaniert werden
Für Opfer von Gewalttaten hat Deutschland einen Entschädigungsfonds eingerichtet. Doch allzu häufig beginnt für Opfer, die einen Antrag nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) stellen, mit der Antragstellung eine Odyssee, die sie am Ende noch traumatisierter und ohnmächtiger zurück lässt als direkt nach der Gewalttat.
"Es ist fast schlimmer als die Tat selbst, was das Versorgungsamt Hamburg mit mir macht", sagt zum Beispiel Wilfried W. Am 28. Dezember 1993 wird der damals 50-Jährige während eines Konzertes völlig unvermittelt verprügelt. Ein Betrunkener schlägt ihm ins Gesicht, drückt den Kopf herunter und rammt ihm das Knie erneut ins Gesicht, so heftig, dass Wilfried W. das Bewusstsein verliert. Sein rechtes Auge hängt nur noch an ein paar Muskeln und Sehnen, rutscht aus der zertrümmerten Augenhöhle in die Kieferhöhle. Mit einem Wimpernschlag hat sich sein Leben komplett verändert. Er sieht alles doppelt, hat Panikanfälle, traut sich kaum noch aus dem Haus - bis heute. Seinen Beruf als Heizungsbauer kann er nicht mehr ausüben.
Wilfried W. stellt den Antrag auf Opferentschädigung. 12 Jahre und 17 Gutachten später wird ihm eine geringe Rente zugesprochen, sein so genannter "Grad der Schädigungsfolgen“ wurde bei 40 Prozent eingestuft. "Nach 12 Jahren wurde das Versorgungsamt dazu verurteilt, eine Rente von 160 Euro zu zahlen. Es hat nur einige Monate gedauert, da haben die schon begonnen, die Zahlung wieder einzustellen, die Rente zu streichen.
Nach 12 Jahren beginnt alles von vorn
Dann begann das Chaos wieder von vorne, und das betreibe ich jetzt insgesamt 19 Jahre", so Wilfried W. Er bezeichnet die Vorgehensweise der Behörde als "Wiederholung des Verbrechens seit 19 Jahren". Wie soll man abschließen, wenn man sich immer wieder mit dem Ereignis beschäftigen muss? Psychiater und Therapeuten warnen davor, Gewaltopfer immer wieder mit der Tat zu konfrontieren. Dies könnte zu einer Retraumatisierung führen.
Das Hamburger Versorgungsamt behauptet, entgegen mehrerer Gutachter- und Gerichtsbescheide, Wilfried W.'s Zustand habe sich verbessert. Die Folge: Sechs weitere Gutachten werden verfasst. Der renommierte und erfahrene Sachverständige Dr. Helmut Kropp, Neurologe und Psychiater, hat Wilfried W. zweimal begutachtet und befindet danach, dass W. nach wie vor an einer chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Das Auftreten von Doppelbildern sei ebenso weiterhin vorhanden, bestätigen auch die Ärzte des Universitätsklinikums Eppendorf. Dr. Kropp kann das Verhalten der Behörde nicht mehr nachvollziehen. Wieder müssen nun Richter entscheiden, ob Wilfried W. eine Entschädigung bekommt.
Vergeblicher Kampf um Entschädigung
Auch Gunda Gerlach hat um eine Rente aus dem Opferentschädigungsfond gekämpft. Ihre Tochter Vasthi Gerlach wurde am 18. März 2010 erschlagen. Die 23-Jährige arbeitete in einem Heim für psychisch Kranke als Pflegerin. Ein dort lebender, mehrfach vorbestrafter Bewohner drang nachts mit einem geklauten Schlüssel in ihr Zimmer ein und erschlug sie. "Er hat 10 Mal mit dem Kuhfuß, mit dieser Brechstange, auf ihren Kopf eingeschlagen, die Arme waren gebrochen. Und dann hat er die Messer genommen und hat durch den Brustkorb gestochen, zweimal, und mit einem so genannten Ausbeinmesser die Kehle durchgeschnitten." Seitdem ist Gunda Gerlach depressiv, überängstlich und antriebslos. Sie musste ihre Arbeit aufgeben. Sie hoffte auf eine Rente aus dem Opferentschädigungsfond, ließ sich fünf Stunden begutachten.
Der Sachverständige kam damals zu dem Ergebnis, dass ihr Grad der Schädigungsfolgen bei 60 Prozent liegt. Doch das zuständige Versorgungsamt in Schleswig-Holstein schätzt ihre Depression - ohne sie persönlich zu begutachten - als weniger gravierend ein und halbiert den Grad der Schädigung auf 30 Prozent. Ein Grad der Beschädigung von 60 Prozent sei nicht zu begründen. Gunda Gerlach zeige eine "beschriebene lebendige Mimik mit Lachen und Lächeln" und habe im Gutachten "soziale Kontakte" angegeben. Sie leide nicht unter einer "schweren psychischen Störung", sondern eher unter einer "mittelschweren psychischen Störung". Dafür gäbe es nur 30 Prozent.
Gunda Gerlach erkrankte an Krebs, wollte gegen den Bescheid kämpfen. Es kostete sie Kraft. Energie, die sie eigentlich brauchte, um den Krebs zu bekämpfen. Doch bei einer kleinen Rente von rund 360 Euro wäre es ein großer Unterschied gewesen, ob sie 127 Euro oder das Doppelte als Entschädigung bekommen hätte. Immer wieder betonte sie, dass ihre Tochter noch leben könnte, hätte der Staat in seiner Aufsichtspflicht nicht versagt. Das Geld aus dem Opferentschädigungsfond wäre eine Anerkennung ihres Leids gewesen und hätte ihr den Alltag etwas erleichtert. Ihre Tochter Vasthi sei schließlich "zu 100 Prozent tot". "Und die Opfer haben lebenslänglich", so Gunda Gerlach im Interview.
Die Versorgungsämter sehen keine Probleme
Warum die Versorgungsämter sich so schwer tun, wollen sie Panorama gegenüber nicht verraten. Man sehe keine Probleme bei der Bearbeitung von Anträgen, auch würden sie schnellstmöglich bearbeitet. Das Bundesministerium bestreitet, dass positive Bescheide selten seien und verweist auf eine Studie, die diese Aussage nicht stützen soll. Panorama liegt die unveröffentlichte Studie vor.
Darin stellt der Kriminologe der Hamburger Fakultät für Rechtswissenschaften, Prof. Bernhard Villmow, klar fest: Die Wenigsten stellen überhaupt einen Antrag auf Opferentschädigung. Und es sei nur eine Minderheit, die einen positiven Bescheid bekommt und von denen, die einen positiven Bescheid bekommen, sei es nur eine Minderheit, die Renten bekommt.
Gunda Gerlach braucht die Rente heute nicht mehr. Sie starb am 3. Februar 2013. Ihre Familie erklärte Panorama gegenüber, dass ihre Mutter sich gewünscht habe, dass der Beitrag ausgestrahlt wird.