Die Nein-Sager
Sie stürzen Tausende in finanzielle und seelische Nöte: Deutsche Versicherungen kassieren Jahr für Jahr, Monat für Monat ihre Prämien. Wenn sie aber gebraucht werden, können sie sich fast ohne Risiko verweigern.
Als die hochschwangere Claudia Bernert 1984 mit einsetzenden Wehen ins Immenstädter Krankenhaus im Allgäu kommt, hat sie eine nach ihren Worten "völlig normale" Schwangerschaft hinter sich. Doch dann sei alles schief gegangen, berichtet sie. Grünes Fruchtwasser, Sauerstoffmangel, das Neugeborene bleich und apathisch.
Doch ein Arzt habe erklärt, alles sei in Ordnung. Er reagiert offenbar in keiner Weise auf den offensichtlich vorliegenden Notfall. Erst zwei Tage nach der Geburt wird das Kind in eine andere Klinik verlegt, um wegen ständiger Krampfanfälle behandelt zu werden. Die Ärzte stellen eine Hirnblutung fest, der Junge bleibt wochenlang im Krankenhaus. Daniel ist schwerbehindert – sein Leben lang.
Vergleiche: Oft zum Nachteil der Betroffenen
Nachdem jahrelange, außergerichtliche Einigungsversuche scheitern, zieht Familie Bernert vor Gericht. Mit Erfolg. Zwei Gerichte stellen die Schuld von Arzt und Hebamme fest. Doch die Gegenseite, hinter der die Allianz Versicherung steht, legt immer wieder Berufung ein. Bis der Bundesgerichtshof das Urteil 2005 höchstrichterlich bestätigt.
Im anschließenden Betragsverfahren geht es nur noch um die Höhe der Entschädigung. Auch hier lässt die Allianz ein erstinstanzliches Urteil nicht gelten und geht erneut in Berufung. Aktuell hat das Oberlandesgericht München einen Vergleich angeboten: Fast 28 Jahre nach Daniels Geburt und einer ersten Abschlagszahlung vor 5 Jahren könnte Daniel nun 300 000 Euro erhalten. Die Allianz akzeptiert, doch Claudia Bernert ist verzweifelt. Diese Summe reicht nicht für die lebenslange Pflege ihres schwerbehinderten Sohnes.
Gutachten als Verzögerungstatktik
Immer wieder aktivieren Versicherungen juristische Apparate und arbeiten mit allen zur Verfügung stehenden Tricks, um berechtigte Ansprüche von Geschädigten abzulehnen. Ein Mittel, mit dem auch die Allianz das Verfahren in die Länge gezogen hat, sind Gutachten und Gegengutachten.
Hans-Peter Schwintowski, ein Experte für Versicherungsrecht, schätzt, dass bis zu 60 Prozent aller Leistungsfälle in bestimmten Versicherungsarten abgelehnt werden. Die Gutachten würden dabei meist zugunsten der Konzerne ausfallen, denn die beauftragten Experten seien auf die hohen Honorare der Auftraggeber angewiesen. In der Regel enden die Verfahren mit einem Vergleich, weil die Betroffenen zermürbt werden – und ihnen das Geld für immer neue Prozesse fehlt.
Ablehnungen in Serie?
Für die Versicherungen eine günstige Alternative, denn bei den Vergleichen bekommen die Kunden immer weniger als das, was ihnen laut Vertrag eigentlich zugestanden hätte. Die ehemalige Versicherungsjuristin Beatrix Hüller war sechs Jahre lang dafür zuständig, Ansprüche von Versicherungsnehmern zu bearbeiten. Sie erzählt: "Bei der Unfallversicherung gab es schon vorformulierte Textbausteine mit Ablehnungsgründen, da musste man noch nicht mal mehr einen individuellen Brief schreiben. Von 100 Leistungsfällen habe ich bestimmt zwei Drittel abgelehnt."
Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft GDV gibt sich auf eine Panorama-Anfrage unwissend. Dem GDV sei eine jahrelange Verzögerungstaktik der Versicherer nicht bekannt. Selbstverständlich, so der GDV, müsse der Versicherer zum Schutz der Versichertengemeinschaft bei jedem Schadenfall genau prüfen, ob ein berechtigter Anspruch vorliege.