Stand: 05.09.2019 06:00 Uhr

Wohin verschwand eine halbe Milliarde Steuergeld?

von Manuel Daubenberger, Karsten Polke-Majewski, Christian Salewski

Da sitzen sie nun, im größten Saal des Bonner Landgerichts. Außer den Ermittlern hat zuvor noch niemand die beiden britischen Aktienhändler gesehen, die der schweren Steuerhinterziehung in 33 Fällen angeklagt sind. Es ist der erste Strafprozess im Cum-Ex-Skandal, den der Vorsitzende Richter Roland Zickler am Mittwochvormittag eröffnete. Insgesamt 447,5 Millionen Euro sollen Martin S., 41 Jahre, und Nicholas D., 38 Jahre, zwischen 2006 und 2011 aus der deutschen Steuerkasse geraubt haben. Mit Aktiengeschäften, deren einziges Ziel es war, den Staat dazu zu bringen, Steuern zurückzuerstatten, die vorher gar nicht abgeführt worden waren.

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Martin S. ist ein schlanker Mann. Er trägt einen eleganten dunklen Anzug, einen beigen Pullunder über dem weißen Hemd, keine Krawatte. Er lächelt einnehmend, als seine Anwältin ihn anspricht. Als der Richter ihn nach seinem Beruf fragt, hört man seine dunkle, volle Stimme: Früher sei er Bankier gewesen, "heute Berater". Für die Anklage ist Martin S. so etwas wie der Ingenieur der Cum-Ex-Geschäfte. Er hat das Werkzeug entwickelt, mit dem die mutmaßlichen Diebe ihre komplizierten Deals abwickelten.

Nicholas D. blickt fast ständig auf den Tisch vor sich. Konzentriert liest er mit, als die Anklage vorgetragen wird. In seinem blauen Anzug mit blau-rot-weiß gestreifter Krawatte und dem zum Scheitel gegelten Haar gibt er das typische Bild eines Londoner Bankers ab. "Buchhalter" sei sein Beruf, sagt er und da ist etwas dran, denn im Kreise der Steuerräuber war er derjenige, der die komplizierten Deals abwickelte und die nötigen Tabellen ausfüllte.

Insider-Interview
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Hinter den Plätzen der Angeklagten hat das Gericht weitere Tische aufstellen lassen. Dort haben die Anwälte von fünf Finanzinstituten Platz genommen, die das Gericht in das Verfahren einbezogen hat, weil sie mutmaßlich von den Deals profitierten: die Hamburger Privatbank M.M. Warburg, deren Tochtergesellschaft Warburg Invest, die amerikanische Bank BNY Mellon, eine Fondsgesellschaft der französischen Société Générale sowie die Hamburger Kapitalverwaltungsgesellschaft Hansainvest. Schweigend folgen die Anwältinnen und Anwälte dem Geschehen. Sagen möchte niemand etwas, so freundlich Richter Zickler auch fragt.

Dann hat Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker ihren Auftritt. Seit bald zehn Jahren ermittelt die Kölner Staatsanwältin zu Cum-Ex. Nun ist es endlich so weit, sie kann die ersten mutmaßlichen Täter anklagen. Doch es ist keinerlei Triumph zu spüren, als die schmale Frau mit dem blonden Pagenkopf ihre Anklage vorbringt. Zweieinhalb Stunden lang liest sie konzentriert vor, unterbricht sich nur, wenn die englischen Dolmetscher ihr nicht mehr folgen können. Sonst zeigt sie keine Regung, greift nicht zum Wasserglas, erhebt nie die Stimme, sondern trägt in ruhigem Ton die Ungeheuerlichkeit vor, die sich da abgespielt haben soll: Fall eins, Schaden: 37.356.589,95 Euro. Fall zwei, Schaden: 35.762.484,86 Euro. Fall drei... So geht es immer weiter, es kann einem schwindelig werden vor lauter Zahlen. Als Brorhilker endet, stützt sie das Kinn auf die gefalteten Hände.

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Wer aber hat eigentlich profitiert von diesen Deals? Arm sind Martin S. und Nicholas D. nicht gerade, die Londoner Adressen, die sie dem Gericht genannt haben, liegen in teuren Stadtteilen der ohnehin kostspieligen Metropole. Und dort, so haben sie in ihren Vernehmungen gesagt, leben sie nicht einmal ständig, sondern sind oft auch in Irland oder Gibraltar. Doch wenn sie die Cum-Ex-Geschäfte nur vermittelt hätten, so bemerken die Richter, dann hätten sie nicht unmittelbar davon profitiert, sondern über den Umweg von Gehältern und Boni. Dann wäre das, was sie taten, vielleicht keine unmittelbare Steuerhinterziehung, sondern Beihilfe dazu. Dann könnte die Strafe entsprechend geringer ausfallen.

Die beide Angeklagten waren bereits vor der Gerichtsverhandlung geständig, haben bei der Staatsanwaltschaft umfassend ausgesagt und weitere Beteiligte belastet. Martin S., so sagt seine Verteidigerin, bestreite seine Rolle nicht. "Er ist der Erste, der aussagt, aber nicht der einzige Beteiligte und nicht die zentrale Gestalt." Er werde auch vor Gericht umfassend aussagen. Brorhilker bestätigt, dass die Aussagen von Martin S. ihre Ermittlungen beschleunigt hätten, auch in weiteren anhängigen Verfahren. Sie ermittelt wegen Cum-Ex gegen mehr als hundert Personen. Vor Prozessbeginn stand deshalb die Frage im Raum, ob Martin S. und Nicholas D. auf eine strafmildernde Kronzeugenregelung hoffen könnten. Solchen Spekulationen entzog das Gericht nun die Grundlage. Darüber sei nie gesprochen worden und das Gericht werde solche Gespräche auf absehbare Zeit auch nicht führen, sagte Zickler.

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Die Anwältinnen und Anwälte in der zweiten Reihe müssen sich wohl auf eine harte Verhandlung gefasst machen. Denn natürlich will der Staat sein Geld zurück. Auf ihre Institute könnten am Ende hohe Millionenforderungen zukommen. Und das Gericht hat schon gezeigt, dass es sich auf keine Verzögerungstaktiken einlassen will. Der nächste Verhandlungstermin ist für den 18. September angesetzt. Dann geht es im Wochenrhythmus weiter.

 

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Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 18.10.2018 | 21:45 Uhr