Verfassungsschützer und NSU-Mord: Doch Zufall?
Sechs Mal hatte das Gericht Andreas Temme im NSU-Prozess nach München bestellt. An sechs Tagen hatten Richter, Staatsanwälte und die Anwälte der Nebenkläger ihn so hartnäckig befragt, als säße er nicht etwa im Zeugenstand, sondern selbst auf der Anklagebank. Denn der frühere hessische Verfassungsschützer hat sich verdächtig gemacht. Er hatte ausgerechnet an jenem 6. April 2006 in einem Kasseler Internetcafé gechattet, an dem Betreiber Halit Yozgat dort kaltblütig ermordet wurde. Und zunächst nichts davon gesagt.
Verschwörungstheorien um Verstrickungen
Ein Geheimdienstler rein zufällig am Tatort? Das hatte zu unglaubwürdig geklungen. In den Wochen und Monaten danach war gegen Andreas Temme zeitweise sogar wegen Mordverdachts ermittelt worden. Bis zuletzt blühten Verschwörungstheorien um eine mögliche Verstrickung des ehemaligen Verfassungsschützers. So fragte Stefan Austin der "ZEIT" am 5.7.2012 suggestiv: "hat ein hessischer Verfassungsschützer einen der NSU-Morde begangen?"
Doch Temme bestritt damals wie heute, an der Tat beteiligt gewesen zu sein oder von einem geplanten Mord gewusst zu haben. Am 12. Juli 2016 stellte das Münchner Oberlandesgericht nun klar: Es glaubt seinen Ausführungen. Er habe seine Wahrnehmungen im Zusammenhang mit der Tat "sachlich, nachvollziehbar und plausibel" geschildert.
Verfassungsschützer zur Tatzeit im Internetcafé
Zeuge Andreas Temme hatte wiederholt beschreiben müssen, wie er sich an den 6. April 2006 erinnert. Panorama hatte er 2012 dazu ein Interview gegeben.
An jenem Aprilnachmittag gegen 17 Uhr war Halit Yozgat in dem Internetcafé seines Vaters mit zwei gezielten Kopfschüssen erschossen worden. Yozgat ist das mutmaßlich neunte von zehn Opfern des "Nationalsozialistischen Untergrunds", NSU. Rund um die Tatzeit befand sich auch der Verfassungsschützer in dem Kasseler Café. Er will von dem Mord nichts mitbekommen haben. Er habe in einem hinteren Computerraum nur einige Minuten lang gechattet, habe dann zahlen wollen, den Betreiber gesucht, aber nicht gefunden und deshalb beim Hinausgehen eine 50-Cent-Münze auf den Tresen gelegt. Hinter diesem Tresen lag zu diesem Zeitpunkt möglicherweise bereits das Opfer in seinem Blut. Dass Temme mehrfach an dem Sterbenden vorbeigegangen sein will, ohne diesen zu sehen, glaubten ihm die Nebenkläger nicht.
Schilderung glaubhaft
Doch auch in diesem Punkt hält das Gericht seine Schilderung für glaubhaft. Schließlich sei es einem weiteren Zeugen genauso ergangen. Der sei kurz nach den Schüssen zweimal an dem Tresen vorbeigegangen, ohne das Opfer dahinter zu bemerken.
In seinem Beschluss stellt das Gericht heraus, dass Andreas Temme "unumwunden auch Fehler im eigenen Verhalten" eingeräumt habe. So habe sein größter Fehler darin bestanden, sich nicht gleich nach Bekanntwerden der Tat als Zeuge gemeldet zu haben. Temme chattete am Tat-Tag über das Flirt-Portal "Ilove.de", wovon seine schwangere Ehefrau nichts mitbekommen sollte.
Die Nebenklagevertreter vermuten, dass der ehemalige Verfassungsschützer mehr wusste, als er vor Gericht zugibt. Doch auch diese Unterstellungen hält das Gericht offenbar für unangebracht: "Anhaltspunkte dafür, dass der Zeuge in der Hauptverhandlung Details verschwiegen oder Sachverhalte unzutreffend bzw. lückenhaft dargestellt hat, sind nicht vorhanden."
Mit seinem Beschluss lehnte das Gericht gleich mehrere Beweisanträge der Nebenkläger ab, die zu den Schilderungen des Beamten weitere Zeugen laden wollten. Damit macht das Gericht auch deutlich, dass es nicht weiter vertiefen will, ob Andreas Temme nicht doch in das Morden verwickelt sein könnte. Diese Frage hält es offenbar für geklärt. Es wird sich zeigen, ob dieser richterliche Beschluss dem Raunen und Munkeln tatsächlich ein Ende bereiten kann oder er es im Gegenteil noch weiter befeuern wird.