NSU-Morde: Fakten und Fabeln
Nichts regt die Phantasie so schön an, wie die Beschäftigung mit dem Geheimen: Deswegen blüht in der Literatur das Genre des Agentenromans, und in unserem journalistischen Gewerbe das Genre der Verschwörungstheorie. Im Agentenroman ist immer alles möglich, auch und gerade das Undenkbare. Gerne werden auf den letzten zehn Seiten aus Helden Bösewichter, aus Regierungen kriminelle Organisationen - eine völlig neue schillernde Welt entsteht.
Das ist sehr unterhaltsam, ebenso wie die journalistische Verschwörungstheorie immer unterhaltsam sind. Denn nichts ist banal, nüchtern und langweilig - alles ist wahnsinnig merkwürdig und atemberaubend unglaublich. In Zeiten der NSU-Affäre etwa werden aus langweiligen Verfassungsschutzbeamten mordende Zombies, aus katastrophaler Unfähigkeit wird bösartige Vertuschung, aus Dummheit Verschwörung. Dafür gibt es viele Beispiele aus jüngerer Zeit. Mittlerweile - siehe unsere Umfrage - ist das entsprechende Gedankengut auch schon Allgemeingut. Alle Verschwörungstheorien folgen übrigens demselben dramaturgischen Muster: Vermeintliche Ungereimtheiten bei Nebensächlichkeiten werden grotesk überhöht, die naheliegenden Hauptfragen geschickt umgangen.
"Der Mann mit der Ceska"
Ein besonders gelungenes Beispiel fanden wir kürzlich in der "ZEIT": Auf der Zeit-Internetseite wurde es noch angekündigt mit: "Verfassungsschützer soll hinter NSU-Mord stecken". Stunden später wurde die Überschrift korrigiert in "Verfassungsschützer könnte in NSU Mord verwickelt sein", um dann schließlich mit der schönen Frage: "Hat ein hessischer Verfassungsschützer einen der NSU-Morde begangen?" am 05.07.2012 das Licht der Welt in der Printausgabe zu erblicken. Diese Frage hat uns sehr beschäftigt und wir wollen sie in den folgenden Zeilen mit einem beherzten "Nein!" beantworten.
Der Artikel trägt übrigens eine weitere Überschrift: "Der Mann mit der Ceska". Die Ceska war unstrittig die Tatwaffe des fraglichen Mordes in Kassel und wurde bei Mundlos und Böhnhardt gefunden. Der Artikel müsste somit eigentlich eine Antwort auf die Frage geben, wer der "Mann mit der Ceska" gewesen sein soll. Wenn damit der Verfassungsschützer Andreas T. gemeint ist, würde man gerne erfahren, wie die Waffe in seine Hände kam. Dazu aber findet sich in dem Artikel leider nichts. Aber immerhin, die Ceska taucht auf. Wir haben diverse Aussagen des ZEIT-Artikels näher betrachtet und mit den vorhandenen Beweisen abgeglichen.
Der Faktencheck:
1. Der Mann aus Göttingen
Beginnen wir mit der Aussage: "2001 soll T. mit einem Mann aus Göttingen beim Schießtraining in Tschechien gewesen sein. Dieser Mann eröffnete den Polizisten, dass er einst bei dem tschechischen Hersteller der Tatwaffe – Ceska – gearbeitet habe. Ein weiteres merkwürdiges Detail, das nichts bedeuten muss, aber kann.“
Und hier bedeutet dieses Detail: absolut nichts! T. war im Mai 2001 tatsächlich vier Tage lang in Tschechien. Denn er nahm an der jährlichen Vereinsfahrt des Vellmarer Schützenvereins teil. Mit von der Partie war auch "ein Mann aus Göttingen". Dieser hat allerdings nie bei dem tschechischen Hersteller der Tatwaffe Ceska selbst gearbeitet, sondern besuchte im Rahmen einer Beratertätigkeit verschiedene Waffenhersteller. Unter anderem schaute er auch mal im Ceska-Werk vorbei. Dieser geheimnisvolle Mann war übrigens jahrelang Schießausbilder in Polizeisportvereinen.
Die Mordwaffe, eine Ceska 83 mit Schalldämpfer, war im Übrigen schon seit 2000 im Besitz des Mörder-Trios Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Die drei waren nicht dafür bekannt, ihre Handfeuerwaffen an Schützenvereine zu verleihen. Soweit die Faktenlage, die nichts bedeuten muss, aber kann.
2. Waffen und Drogen
Weiter schreibt die ZEIT: "Bei der Durchsuchung der beiden Wohnungen von Andreas T. fand die Polizei zwei Pistolen, einen Revolver, einen Wehrmachtskarabiner, Schrotpatronen, Baseballschläger, Messer und Drogen."
Das ist korrekt. Was fehlt, ist die Erläuterung: T. war jahrelang Sportschütze, wie mehr als eine Million andere Menschen in Deutschland auch. Es fehlt also, dass Andreas T. diese Waffen vollkommen legal besaß und die Ermittler kein illegales Waffenlager bei T. ausgehoben haben. Lediglich für den verbotenen Besitz von 13 Schrotpatronen und 100 Stück Manövermunition wurde Andreas T. zu einer geringen Geldstrafe verurteilt. Bei den gefundenen "Drogen" handelte es sich um 3,7 Gramm Haschisch mit Sammlerwert. Andreas T. gab an, dass dieses gut 15 Jahre alt sei, da es noch aus seiner Bundeswehrzeit stamme. Für die Ermittler war der olle Brocken so irrelevant, dass sie sogar von einer Strafverfolgung absahen.
3. Die "Firma"
Weiter berichtet die ZEIT noch: "Die Adresse einer Firma, die auf seinen Namen lief, fand man ebenfalls. Doch T. war offiziell nie Unternehmer."
T. war in der Tat nie offiziell Unternehmer, aber eben auch nicht inoffiziell. Es gab tatsächlich die Adresse einer Firma, die auf den Namen Andreas T. lief. Allerdings wurde im Zuge der Ermittlungen schnell klar, dass es sich um einen anderen Andreas T. handelte, einen Namensvetter, nicht um den seinerzeit Beschuldigten.
4. Ein Buch über Serienmörder
Die ZEIT schreibt auch, dass das Buch "Immer wieder töten – Serienmörder und das Erstellen von Täterprofilen“ bei T. gefunden wurde.
Das ist korrekt. Es ist herausgegeben worden vom Polizeiverlag. Aufregend fanden die Ermittler den Fund nicht: "Auffälligkeiten zu dem vorliegenden Serienmord sind aus hiesiger Sicht nicht erkennbar."
5. Warum hat er nichts gehört und nichts gesehen?
Weiter heißt es in der ZEIT: "Von dem Mord habe er (Andreas T., Anm. der Redaktion) aber nichts mitbekommen."
Andreas T. beteuert bis heute, er habe nichts Verdächtiges gehört oder gesehen. Das könnte daran liegen, dass er das Café bereits vor dem Mord verlassen hatte. Zeitlich knapp aber durchaus denkbar, wie die Rekonstruktionen der Ermittler zeigen. Es könnte aber auch daran liegen, dass er ganz einfach nichts gehört und nichts gesehen hat - so wie es anderen Zeugen auch ergangen ist. Etwa Hamadi S.: Der telefonierte in einer Telefonkabine nur wenige Meter neben der Ladentheke, hinter der Halit Yozgat erschossen wurde. Als S. um 17:03:26 Uhr sein Telefonat beendete und aus der Telefonkabine trat, ging er in Richtung Theke um zu zahlen. Dort sei aber niemand gewesen. Als er den Betreiber auch in dem anderen Raum des Internetcafés nicht fand, ging er zurück und wartete etwa eine Minute. Dass Yozgat nicht weit von ihm blutend hinter seiner Ladentheke lag, bemerkte er nicht. Erst der Vater Yozgats fand seinen Sohn.
6. Der V-Mann
Letztendlich schildert die ZEIT noch ein Telefonat, das T. mit seiner Quelle im rechtsextremen Bereich kurz vor der Tat führte, und dem Mord: "Am Tattag telefonierte T. mehrmals mit „GP 389“. Das erste Gespräch führten die beiden kurz nach 13 Uhr. Um 16:11 Uhr rief „GP 389“ Andreas T. im Landesamt an, das Gespräch dauerte elf Minuten. Direkt danach stempelte T. beim Amt aus und fuhr zu dem Internetcafé. Wenige Minuten später war Halit Yozgat tot."
Der V-Mann aus der rechten Szene, mit dem T. am Tattag telefonierte, ist längst durch die Generalbundesanwaltschaft vernommen worden. Auch dieser Fakt, der gern als Indiz einer möglichen Verbindung zum NSU beschrieben wird, erwies sich als tote Spur. Die Bundesanwaltschaft fand keine Anhaltspunkte dafür, dass der V-Mann oder Andreas T. an der Tat beteiligt gewesen sein könnten.
Panorama klärt auf: So war es wirklich
Soweit einige der Merkwürdigkeiten im Faktencheck. Die Hauptfrage: Wie hat Andreas T. den Cafebesitzer ermordet, beantwortet die ZEIT leider nicht. Wir wollen an der Stelle aber gerne behilflich sein, denn auch wir können unterhaltsam sein: Nehmen wir die Andeutungen in dem Artikel der ZEIT ernst, legen sie uns folgendes Szenario nahe: Andreas T. bekommt einen Anruf von seiner Quelle aus der rechtsextremen Szene mit dem Hinweis, dass ein Mord passieren oder dass T. nun endlich losschlagen soll. T. setzt sich ins Auto, fährt ins Internetcafé.
Dort trifft er Mundlos und Böhnhardt und bekommt die Ceska in einer Tüte überreicht. Ausgerechnet den Betreiber des Internetcafés soll es treffen, bei dem T. seit mehr als zwei Jahren Stammgast ist. Ok, er setzt sich also an den PC, um jede Menge Spuren zu hinterlassen, die ihn identifizierbar machen. Zehn Minuten chattet er mit seiner Internetbekanntschaft "tanymany", dann erschießt er Yozgat, legt noch 50 Cent auf den Tresen und geht. Und dann übergibt er die Ceska wieder an Mundlos und Böhnhardt und fährt nach Hause. Klingt eigentlich nicht einmal romantauglich - könnte sein, muss aber nicht.