Stand: 14.10.2022 11:00 Uhr

Otto-Brenner-Preis 2022 für Panorama- & STRG_F-Projekt

Es war ein außergewöhnliches Projekt, mit hohen technischen, ethischen und juristischen Herausforderungen - und einem ebenso überraschenden wie verstörenden Resultat. "Kindesmissbrauch: Warum löscht die Polizei die Bilder nicht?", so lautete der Titel einer monatelangen gemeinsamen Recherche eines Teams von Panorama, STRG_F und Spiegel, das jetzt in der Kategorie "Innovatives und wegweisendes Medienprojekt" mit dem diesjährigen Otto-Brenner-Preis ausgezeichnet wird. Für den NDR erhalten den Preis Lutz Ackermann, Robert Bongen und Daniel Mossbrucker sowie der IT-Experte Benjamin Güldenring.

Das NDR- und Spiegel-Team habe mit seiner Recherche zum Löschen von Fotos und Videos, die Kindesmissbrauch zeigen, nach Auffassung der Jury "Großartiges geleistet": Dank seiner Initiative seien Unmengen an schrecklichen Aufnahmen für die Konsumenten dieser schlimmsten Perversion im Internet erst einmal nicht mehr zugänglich. Das Team habe zugleich vorbildlich aufgezeigt, wie die Behörden mit minimalem Ressourceneinsatz und Ausdauer diesen Verbrechen gegen Kinder einen Teil ihrer technischen Basis entziehen könnten - wenn sie nur aktiv würden. Die Jury kommt zu dem Ergebnis: "Dass es dafür Journalisten:innen braucht, ist ein Armutszeugnis für Deutschlands Polizeibehörden, aber auch ein grandioser Ausweis dafür, was kritischer Journalismus zu erreichen vermag."

 

VIDEO: Kindesmissbrauch: Warum löscht die Polizei die Bilder nicht? (11 Min)

Preis für kritischen Journalismus

Die Otto Brenner Stiftung verleiht 2022 den Otto Brenner Preis für kritischen Journalismus zum 18. Mal. Aus knapp 500 Bewerbungen wurden journalistische Arbeiten prämiert, die das Motto der Ausschreibung "Gründliche Recherche statt bestellter Wahrheiten" beispielhaft umgesetzt haben. Die Preisverleihung findet am 26. November in Frankfurt am Main statt, im Rahmen der Festveranstaltung zum Jubiläum "50 Jahre Otto Brenner Stiftung".

Zum Projekt: Trotz zahlreicher Missbrauchsfälle wie etwa Lügde haben Medien in Deutschland bisher nie selbst in Darknet-Foren recherchiert, in denen Pädokriminelle Fotos und Videos von Kindesmissbrauch tauschen, sondern mussten ausschließlich Behörden-Informationen verwerten. Die NDR-Redaktionen Panorama und STRG_F haben dies 2021 gemeinsam mit dem Magazin "Der Spiegel" erstmals getan. Dabei entdeckte das Team, dass Strafverfolgungsbehörden wie das Bundeskriminalamt (BKA) systematisch Missbrauchs-Aufnahmen teils jahrelang im Netz stehen lassen, obwohl sie gelöscht werden könnten. Entgegen dem bisherigen öffentlichen Eindruck werden die Aufnahmen selbst nämlich nicht im sogenannten Darknet gespeichert, sondern im "normalen Internet"; im Darknet selbst werden nur die Zugangsdaten zu den jeweiligen Speicherdiensten geteilt. Diese stehen dort offen, sodass sie den betroffenen Speicherdiensten zur Löschung gemeldet werden könnten.

Das Rechercheteam tat dies zunächst stichprobenartig, ehe in einer konzentrierten Aktion mit datenjournalistischen Mitteln 80.000 funktionierende Links gesammelt wurden, die von Behörden bis zu sechs Jahre lang nicht entfernt worden waren. Die Speicherdienste löschten nach der Meldung durch das Team alle Inhalte binnen 48 Stunden, wodurch unter anderem das damals größte Darknet-Forum mit fast zwei Millionen User-Accounts praktisch "inhaltsleer" wurde. Hinter den gemeldeten Links verbargen sich 13,55 Terabyte an Daten; konkret entspricht das einer Menge, als würde sich eine Person rund ein Jahr lang Tag und Nacht Videos von Kindesmissbrauch in HD-Qualität ansehen.

Die Ergebnisse stehen im Widerspruch zu aktuellen Zahlen der Bundesregierung. Jährlich berichtet das BKA dem Deutschen Bundestag im Bericht "Löschen statt Sperren", dass die Löschquoten bei sogenannter "Kinderpornographie" stiegen. Die Recherchen zeigten jedoch, dass für die Statistik gar nicht alle Fälle erfasst werden; so werden in den großen Darknet-Foren so gut wie gar keine Fotos und Videos entfernt, auch wenn damit die Plattformen - wie ein Administrator des größten Darknet-Forums selbst dem Team bestätigte - "zu Tode genervt" werden könnten. Das BKA missachtet damit sogar die politischen Vorgaben: Noch im November 2021 - wenige Tage vor der Veröffentlichung der Recherche - bezeichnete der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer die Löschung solcher Aufnahmen als "unverzichtbar".

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Eine Kriminaloberkommissarin sitzt in einem Büro vor einem Auswertungscomputer auf der Suche nach Fällen von sexuellem Missbrauch. © Arne Dedert/dpa Foto: Arne Dedert

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BKA verteidigte Vorgehen zunächst

Konfrontiert mit den Recherchen verteidigte ein verantwortlicher BKA-Beamter das Vorgehen. Aus Ressourcengründen müsse man sich darauf konzentrieren, Täter:innen zu fassen und mögliche Opfer zu finden. Das Rechercheteam fand jedoch starke Indizien, dass es ein "Entweder Oder" zwischen Strafverfolgung und Löschung der Aufnahmen nicht gibt. Im Gegenteil: Viel spricht dafür, dass diese Ermittlungstaktik geradezu kontraproduktiv ist und zu mehr anstatt zu weniger Missbrauchstaten führen dürfte. Das markanteste Beispiel: Zwar schaltete das BKA im April 2021 die Darknet-Plattform "Boystown" ab und verhaftete vier mutmaßliche Hintermänner. Es ließ jedoch die auf den Servern verlinkten Inhalte nicht löschen. Wie das Rechercheteam rekonstruieren konnte, wurde dadurch schon fünf Tage nach der "Boystown"-Abschaltung eine Kopie in einem anderen Forum wieder hochgeladen; so zirkulierten trotz des Ermittlungserfolges die "Boystown"-Inhalte weiter in den Darknet-Foren, obwohl sie durch das BKA wohl binnen weniger Stunden hätten entfernt werden können.

Die Bedeutung der Recherchen für die Betroffenen von Missbrauch wiegt schwer: Exemplarisch die Reaktion einer jungen Frau: "Die Vorstellung, dass die Aufnahmen, die von mir gemacht wurden, quasi jeden Moment von einem Täter in diesen Foren angeschaut werden können, fühlt sich wie ein erneuter Missbrauch an. Warum wird nicht alles dafür getan, dass das gelöscht wird?" Kinder- und Jugendpsychologen sowie der Deutsche Kinderschutzbund sprachen in einer gemeinsamen Presseerklärung von einer "Ohrfeige für die Betroffenen" sowie einer "Katastrophe für die Prävention seelischer Not". Im Juni 2022 kündigte die Innenministerkonferenz schließlich die Erarbeitung eines bundesweit abgestimmten Melde- und Löschprozesses an, um die "schnelle und konsequente Löschung" von Missbrauchsdarstellungen zu erreichen.

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Das Projekt machte auch deutlich, dass die Pressefreiheit in Deutschland stetig weiterentwickelt und gegen eine Kriminalisierung der Recherche verteidigt werden muss. Der Gesetzgeber hat für Medien in Deutschland keine speziellen Ausnahmen zum Komplex des sogenannten "Kinderpornografie" geschaffen, sodass die Recherchen am Rande der Legalität stattfanden und die beteiligten Journalisten fürchten müssen, für ihre Arbeit strafrechtlich verfolgt zu werden.

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Ein Foto von einem Kind beim Turnen wird von Pädophilen verbreitet. © NDR

Recherchieren am Rande der Legalität

Über den Missbrauch von Kindern und den Tausch von Fotos und Videos solcher Taten zu recherchieren, ist heikel - und birgt juristische Risiken. mehr

Im Vorfeld hatte das NDR-Justiziariat in Person von Klaus Siekmann deshalb die Rechtslage intensiv geprüft. So konnten gemeinsam Redaktion und IT-Experten innovative Konzepte entwickelt werden, um die engen juristischen Vorgaben bestmöglich zu erfüllen. So wurde ein eigener, zutrittsgesicherter Raum angemietet mit Hardware, die nur für dieses Projekt angeschafft worden war. Viele Analyseprogramme wurden selbst geschrieben und die Browser so konfiguriert, dass die Journalisten in den Darknet-Foren keine Bilder ansehen müssen.

Veröffentlicht wurde die Recherche im ARD-Magazin Panorama, im Rechercheformat STRG_F (Funk/YouTube), im Magazin "Der Spiegel" (Online, Print & Podcast), auf tagesschau.de sowie in tagesaktuellen ARD-Nachrichtensendungen (Hörfunk & TV).

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Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 22.04.2021 | 21:45 Uhr

Panorama 60 Jahre: Ein Mann steht hinter einer Kamera, dazu der Schriftzug "Panorama" © NDR/ARD Foto: Screenshot

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Als erstes politisches Fernsehmagazin ging Panorama am 4. Juni 1961 auf Sendung. Die Geschichte von Panorama ist auch eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. mehr

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