Kriminologe zu Wahlkampf-Attacken: Was die Statistiken sagen
Farbanschläge auf Partei-Zentralen, Angriffe auf Politiker und unzählig zerstörte oder beschmierte Wahlplakate: Dieser Bundestagswahlkampf ist nicht nur kurz, sondern auch in Teilen aggressiv. Doch gibt es einen statistisch nachweisbaren Trend zu mehr Gewalt und Zerstörung?
In Norddeutschland hat es in den vergangenen Wochen des Wahlkampfs einige Zwischenfälle gegeben, die bundesweit für Schlagzeilen sorgten. So gab es neben dem Schaumtortenwurf auf den FDP-Spitzenkandidaten Christian Lindner bei einer Wahlkampfveranstaltung in Greifswald und einem Brandanschlag auf einen SPD-Bus im Kreis Herzogtum Lauenburg auch einen Angriff auf das Grünen-Parteibüro in Schleswig. Unbekannte hatten dort Mitte Januar Steine durch die Fensterscheiben der Geschäftsstelle geworfen.
Gewaltdelikte: Nur wenige Fälle im Norden
Die Landeskriminalämter dokumentieren die Straftaten, die mit der Bundestagswahl zusammenhängen. In den meisten Fällen waren dies in den vergangenen Wochen Sachbeschädigungen. Gewaltdelikte sind eher die Ausnahme, wie eine NDR Abfrage ergab. Niedersachsen meldete bis Mitte Februar sechs Fälle, Mecklenburg-Vorpommern vier. In Hamburg wurde beim Landeskriminalamt bislang kein Gewaltdelikt im Zusammenhang mit dem aktuell laufenden Wahlkampf angezeigt. Das LKA in Schleswig-Holstein gab auf Nachfrage des NDR "aus Gründen der mangelnden Belastbarkeit" keine Zahlen aus dem laufenden Jahr heraus.
Von medial umfangreich begleiteten Einzelfällen könne man dennoch nicht auf einen allgemein raueren Wahlkampf schlussfolgern, sagt Thomas Bliesener, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen in Hannover. Der Kriminologe erklärt im Gespräch mit NDR Info, warum der Vergleich von aktuellen und älteren Statistiken meist schwierig ist und welche Faktoren die Kriminalitätsstatistiken beeinflussen.
Herr Bliesener, in dem sehr kurzen und aufgeheizten Wahlkampf gab es in den vergangenen Wochen vermehrt Meldungen von Vandalismus, beschädigten Plakaten, aber auch von Angriffen auf Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer. Wird die Bedrohung größer?
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Thomas Bliesener: Die Landeskriminalämter und auch das Bundeskriminalamt erfassen solche Vorfälle seit einigen Jahren. Dabei muss aber auch berücksichtigt werden, dass es in den vergangenen Jahren immer wieder Veränderungen im Erfassungssystem des BKA gegeben hat. Insofern sind zum Beispiel Vergleiche aus dem Jahr 2021 mit den Jahren 2024 oder 2025 nicht ganz unproblematisch.
Durch zahlreiche Medienberichte über Angriffe, wie zuletzt zum Beispiel dem Brandanschlag auf einen SPD-Wahlkampfbus in Büchen im Kreis Herzogtum Lauenburg, entsteht der Eindruck, dass die Bedrohung größer geworden ist. Welche Rolle spielen solche besonders gravierenden Ereignisse in der öffentlichen Wahrnehmung?
Bliesener: Insgesamt wissen wir aus der Forschung zur Kriminalitätswahrnehmung, dass solche herausragenden Ereignisse einen großen Einfluss haben. Die mediale Verbreitung spielt dabei eine nicht unerhebliche Rolle. Einerseits erfahren viel mehr Menschen davon und auf der anderen Seite kann ein einzelnes Ereignis auch einen medialen Effekt auslösen. Somit wird anschließend vielleicht auch von einem Ereignis mit geringerer Tragweite und geringerer Schwere berichtet, weil es eben in diesen Kanon passt. Durch die enorme Verfügbarkeit von medialen Kanälen erfahren wir von sehr vielen Vorfällen, wodurch dann sehr schnell der Eindruck entstehen kann, dass solche Vorfälle zunehmen.
Wie genau werden die Bedrohungen gegen Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer bei den Landeskriminalämtern erfasst?
Bliesener: Solche Taten fallen unter die sogenannte politisch motivierte Kriminalität und das ist eine Statistik, die die Landeskriminalämter beziehungsweise die einzelnen Polizeistationen führen. Das Besondere bei der politisch motivierten Kriminalität ist, dass das eine sogenannte Eingangsstatistik ist. Das heißt: Ein Vorfall, der bei der Polizei gemeldet und angezeigt wird, muss dort erst einmal eingeordnet werden. Es ist also die Aufgabe des aufnehmenden Polizeibeamten, zu klassifizieren, ob in dem konkreten Fall ein politisches Motiv erkennbar ist.
Wie schwierig ist eine entsprechende Einordnung?
Bliesener: Das ist in manchen Fällen keineswegs trivial. Wenn beispielsweise Schmierereien angezeigt werden, müssen diese Botschaften zunächst von den aufnehmenden Beamtinnen und Beamten entschlüsselt werden. Das ist keine einfache Aufgabe. Es kann im Laufe der weiteren Ermittlungen auch durchaus vorkommen, dass diese Klassifikation korrigiert wird.
Wie aussagekräftig sind dann aus Ihrer Sicht die Statistiken der Landeskriminalämter in diesem Bereich?
Bliesener: Bei Kriminalitätsstatistiken sind wir als Kriminologen relativ zurückhaltend, wenn es um eine Veränderung von einem zum nächsten Jahr geht. Vor allem, wenn die Fallzahlen insgesamt nicht sehr hoch sind. Wir wissen aus der Statistik, dass eine vermeintliche Zunahme von fünf auf vielleicht sieben Fälle sehr viel stärker von Zufallsereignissen beeinflusst ist als eine Veränderung von 5.000 auf 7.000 Fälle, obwohl die Zunahme prozentual identisch ist.
Die aktuellen Zahlen der Landeskriminalämter zeigen, dass der überwiegende Teil der Straftaten in diesem Bereich Sachbeschädigungen wie zum Beispiel zerstörte, abgerissene oder geklaute Wahlplakate sind. Bestätigt das auch Ihre Erfahrungen?
Bliesener: Für mich als Kriminologen ist das wenig überraschend. In der allgemeinen Kriminalität treten Sachbeschädigungen in einem ähnlichen Verhältnis auf. Dort sind zwei Drittel aller Straftaten Eigentumsdelikte. Das ist nicht schön, das müssen wir auch nicht hinnehmen. Aber gleichwohl sind es ja nun Delikte, die auch die Allgemeinheit nicht so sehr beunruhigen wie Angriffe gegen Personen, die psychisch oder physisch zu Schaden kommen.
Welche weiteren Faktoren können einen Einfluss auf die Kriminalitätsstatistiken haben?
Bliesener: Vor allem kleinere Delikte sind sehr viel stärker von der Anzeigebereitschaft der betroffenen Personen abhängig. Viele Delikte werden nicht angezeigt, weil sie auch von den Betroffenen als Bagatelle erlebt werden. So etwas kann sich aber ändern, wenn solche Vorfälle in der öffentlichen Diskussion stärker thematisiert werden. Dann neigen viele von uns dazu, doch die Straftat anzuzeigen. Das führt wiederum zu selbstverstärkenden Prozessen, bei denen Taten im niedrigschwelligen Bereich dann plötzlich vermeintlich ansteigen, obwohl sie eigentlich nur vom sogenannten Dunkelfeld ins Hellfeld geraten. Diese Taten waren also vorher unentdeckt oder wurden nicht gemeldet und tauchen durch die Anzeige nun doch auch in der Statistik auf.
Bei unseren Recherchen wurde deutlich, dass vor allem in Hamburg aktuell deutlich mehr Plakate hängen, was ja auch mit dem Doppelwahlkampf vor Ort zu tun hat. Aber ziehen mehr Plakate auch automatisch mehr Beschädigungen mit sich?
Bliesener: Das ist natürlich ein ganz simpler Effekt. Die Taten werden auch durch die Tatgelegenheiten bestimmt und aber auch durch die Zahl der möglichen Täter, das kennen wir aus der Kriminologie. Wo mehr Menschen sind, da passiert auch mehr. Nicht, weil die Menschen da gefährlicher sind, sondern einfach, weil da mehr Potenzial vorhanden ist. Das Gleiche gilt natürlich auch für die Tatgelegenheiten: Wenn zum Beispiel der öffentliche Nahverkehr ausgebaut wird, gibt es auch mehr Schwarzfahrer.
Kommen wir noch einmal zu den Attacken auf Politikerinnen und Politiker auch abseits des Wahlkampfs zurück. Können Sie mit Blick auf die Dunkelfeldforschung sagen, dass die Bedrohung in den vergangenen Jahren zugenommen hat?
Bliesener: In dem Bereich sind vor allem die sogenannten Motra-Befragungen wichtig, für die zweimal im Jahr Mandats- und Amtsträger befragt werden. Bei diesen Untersuchungen ist der Anteil der Betroffenen in den vergangenen Jahren relativ konstant geblieben, da ist keine Zunahme erkennbar. Aber auch bei dieser Statistik gilt es zu beachten, dass sich nur ein relativ kleiner Teil der angeschriebenen Personen zurückmeldet. Insofern müssen wir da immer etwas Vorsicht walten lassen, inwieweit man von den Auskunftgebenden auch auf die Gesamtzahl schließen kann. Da die Rücklaufquote aber über die letzten Jahre relativ konstant geblieben ist, bestätigt das die Annahme, dass es keinen deutlichen Zuwachs bei den Bedrohungen gegeben hat.
Das Interview führte Lea Eichhorn.
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