Schwimmstar Sandra Völker: Untergehen gilt nicht
"Dieser Moment war sehr erlösend", gesteht sie. Wie ein Hamster sei sie beharrlich immer weiter im Rad gelaufen. "Irgendwie", dachte sie, "schaff' ich das schon." Aber dann kam der Moment, der sie vielleicht gerade noch rechtzeitig zurück in die Spur brachte. "Eine Freundin wollte mir wieder Geld leihen. Aber dann hat sie mich gefragt: Bringt das wirklich was?" Diese Frage brachte das Kartenhaus endgültig zum Einsturz. Die Schuldenfalle hatte zugeschnappt, als sich der Kauf einer Wohnung als Fass ohne Boden erwies und ihre finanzielle Misere durch die Pleite des Hauptsponsors noch getoppt wurde. Was dann geschah, nennt man wohl "Tabula rasa". Alles kam auf den Prüfstand, alles was irgendwie zu Geld zu machen war. Auch die silberne Medaille von Atlanta. "Es ist doch nur eine Medaille", sagt sie. "Die Emotionen, die diese Medaille ausgelöst hat, sind in mir; die kann mir keiner nehmen, die kann man auch nicht ersteigern." Der Auktionator steht daneben und ist sprachlos. Es tut ihm sichtlich leid, so wie offenbar auch dem neuen Besitzer, der versprach, dass Sandra Völker die Medaille zum gleichen Preis zurückkaufen kann. Irgendwann.
"An Land kannst Du nicht schwimmen"
Was wohl gewesen wäre, wenn sie schon damals, im Spätsommer 1996, von dieser Wende ihres Lebens gewusst hätte? Hätte sie auch dann "Nein" gesagt zu einem Studium? Und was wäre gewesen mit den Schlenkern in ihrer Karriere? Dem Wechsel 2003 von Hamburg und Trainer Lange nach Leipzig und kurz darauf weiter nach Berlin, was ihr Sponsor als "von Panik getrieben" beschrieb. Hätte sie schon früher aufgehört als ein halbes Jahr vor dem anvisierten fünften Olympia-Start 2008 in Peking, sich damit manchen Rückschlag erspart und eine sichere Zukunft aufgebaut? "Es ist einfach so, dass man seine Erfahrungen selber machen muss", sagt sie und denkt manchmal schon, dass sie sich mit der Erfahrung von heute das ein oder andere hätte ersparen können. "Aber so funktioniert das nicht. Wenn ich die Dinge nicht erlebe, kann ich sie auch nicht leben." Nur manchmal hätte sie sich - gerade in finanzieller Hinsicht - jemanden an ihrer Seite gewünscht, der sagt, wo es langgeht. Das und vieles mehr hat sie sich in ihrem Buch "An Land kannst Du nicht schwimmen" von der Seele geschrieben.
Als Vierjährige wäre sie fast ertrunken
Zu Lesungen fährt sie nun kreuz und quer durchs Land. Natürlich muss sie dann auch erzählen wie das war, als sie fast in der Ostsee ertrunken ist. Vier Jahre alt war sie und wollte wie ein Delphin schwimmen. Mit Glück wurde sie gerettet - und ihre Eltern meldeten sie umgehend zum Schwimmunterricht an. Schwimmen ist bis heute ihre Kernkompetenz. Die will sie in eine Schwimmschule einbringen, in der nach der Völker-Methode der "eigene Schwimmstil" gefördert wird. "Mit dem Wasser schwimmen, statt dagegen", nennt Sandra Völker das. Trainiert wird individuell an Land und im Wasser - aber mit viel weniger Drill als zu ihrer erfolgreichen Zeit mit Trainer Dirk Lange.
Erfolg mit einem Querdenker als Trainer
Der Querdenker hatte unkonventionelle Methoden und war dem Schwimm-Verband ein Dorn im Auge. Als er Sandra Völker traf, hatte sie in Barcelona 1992 bitter enttäuscht und während des B-Laufs dicke Tränen ins Olympia-Becken vergossen. Eigentlich sei sie mit dem Thema Schwimmen damals schon durch gewesen. "Ich gebe dir drei Monate", versprach sie schließlich, nachdem Lange ihr seine Philosophie erklärt hatte: Weniger Arbeit im Wasser, dafür mehr im Kraftraum und Abwechslung in anderen Sportarten. Kritik blieb nicht aus. "Ich habe darunter gelitten, mir das sehr zu Herzen genommen."
Diagnose Belastungsasthma ein "tierischer Schock"
Mit ihrer Meinung hat sie nie hinterm Berg gehalten und die Konsequenzen bewusst ertragen. So war das auch im Olympiajahr 2000. Dabei begann die Vorbereitung auf Sydney vielversprechend. In Athen gewann sie Gold bei der Kurzbahn-WM (100 m Rücken); und bei den deutschen Meisterschaften in Berlin ließ sie einen Weltrekord über 50 m Rücken (28,25 Sekunden) folgen. Am Ende aber gab es wieder Krach, als sie im 100 m Rücken-Halbfinale als Zweite anschlug, disqualifiziert wurde und nicht mehr an den Start ging. Es kam noch schlimmer. Bei einem Routine-Check wurde Belastungsasthma bei der damals 26-Jährigen festgestellt. "Ich war natürlich tierisch geschockt", erzählt sie. Und: "Wenn ich trainiere, kann es passieren, dass ich einen Asthma-Anfall bekomme und die Bronchien zumachen." Wer diese Atemnot kennt, diese Beklemmung bis hin zur Panik, der kann ermessen, was dies speziell für eine Schwimmerin bedeuten mag.
Weitermachen, "weil ich davon gelebt habe"
Mach' ich jetzt weiter? Die Frage stand im Raum, zumal sie aus Sydney enttäuscht und ohne Medaille heimkehrte - "und Dirk und ich an unsere Grenzen gestoßen sind". Sie machte weiter - wieder einmal nach einer längeren Auszeit und reiflicher Überlegung. "Ich wollte das einfach, weil ich davon gelebt habe." Doch sie musste ständig Medikamente nehmen, was ihr als Leistungssportlerin und Doping-Gegnerin ein Graus war. Sie gründete eine Stiftung, die von der Privatinsolvenz unbeschadet blieb. Die Sandra-Völker-Stiftung will Kindern mit Asthma helfen und ihnen Hoffnung geben. Hoffen tut auch Sandra Völker: "Eines Tages wieder schuldenfrei sein - das wäre der größte Sieg."
- Teil 1: Olympia-Silber in Altlanta ist der "Oberkracher"
- Teil 2: Wohnungskauf wird zum Fass ohne Boden