Olympia 2024: Hamburg hätte Paris sein können
Am Freitag beginnen die Olympischen Spiele in Paris. Das größte Sportereignis der Welt hätte auch in Hamburg stattfinden können, ein Referendum aber stoppte 2015 die Bewerbung. Doch wie hätte Olympia in Hamburg werden sollen - und wäre es aus heutiger Sicht überhaupt vorstellbar gewesen?
Die Möwen und die Verkäufer von Karten für Hafenrundfahrten schreien um die Wette an den Landungsbrücken. Die Sonne funkelt auf dem Wasser der Elbe. Touristen flanieren an den Restaurants und Souvenir-Lädchen vorbei, einige lassen sich zu einer Hafenrundfahrt überreden. Ein normaler Tag an einem der berühmtesten Orte Hamburgs - der noch berühmter hätte werden können.
Eröffnung auf der Elbe statt auf der Seine
Denn hier hätte alles beginnen können: im Hamburger Hafen. Die Eröffnungsfeier auf dem Wasser. So wie jetzt in Paris. Auf der Elbe statt auf der Seine. Ideen dazu gab es: Die Spiele ganz nah am Wasser, auf der anderen Elbseite.
Dort wäre jetzt die Olympia-City mit dem großen Stadion. Ein neuer Stadtteil auf dem Kleinen Grasbrook, direkt an den Elbbrücken. Vom Hafen aus, insbesondere von der Hafencity, gut zu sehen. Doch es kam anders: Der 29. November 2015 bedeutete das Ende der Hamburger Olympia-Pläne.
Bürgerentscheid beendet Hamburger Olympia-Pläne
In einem Referendum sprachen sich knapp 52 Prozent gegen die Spiele in der Hansestadt aus, nur etwa 48 Prozent dafür. Mit versteinerter Miene trat Hamburgs damaliger Erster Bürgermeister Olaf Scholz vor die Presse. "Ich bin enttäuscht. Ich hätte mir gewünscht, dass wir weitermachen können, mit all dem Elan, der sich in Hamburg gezeigt hat", sagte er: "Es ist ein Ergebnis, das Folgen haben wird für die sportliche Entwicklung Deutschlands und für die Frage der Entwicklung Olympischer Sommerspiele."
Das ist fast neun Jahre her. Was hat diese Entscheidung gemacht mit der Stadt? Mit den Menschen, die damals dafür waren - mit denen, die dagegen waren? Und mit denen, für die es Olympia und auch die Paralympics gibt - den Sportlern?
Schwimmerin Bruhn: "Als wenn man in ein Loch fällt"
"Der Moment der Bekanntgabe des Referendums war, als wenn man in ein Loch fällt", sagt Kirsten Bruhn. Elf paralympische Medaillen im Schwimmen hat sie in ihrer Karriere unter anderem geholt, dreimal Gold. Bruhn hat sich 2015 dafür stark gemacht, Olympia und die Paralympics nach Hamburg zu holen.
Ihre aktive Karriere hat die 54-Jährige lange beendet, sie wäre in Hamburg nicht an den Start gegangen. Den Sport lebt sie aber weiter mit Herz und Seele. Und deswegen sitzt der Stachel immer noch tief. Weil es ihr um die Zukunft des Sports in Deutschland geht: "Wir hätten damit mehr und bessere Sportstätten generieren und diese auch inklusiv gestalten können, barrierearm, Rolli-gerecht. Insofern ist der Schmerz tief."
Bruhn trainiert noch immer regelmäßig im schleswig-holsteinischen Bad Bramstedt, zieht ihre Bahnen. Wenn sie über das gescheiterte Referendum spricht, schaut sie manchmal mit leerem Blick auf das Wasser im Becken. Und ist in Gedanken am Wasser in Hamburg, im Hafen: "Da zu stehen und sich zu visualisieren, wie es hätte sein können und wie es jetzt ist, das ist einfach traurig."
Hamburgs Konzept der kurzen Wege
Der Kleine Grasbrook, das geplante Olympia-Gelände, ist noch immer Hafen-Gebiet. Mit Lagerhallen, Sandbergen, schrottreifen Autos, die auf den Abtransport warten. Hier sollte die Olympia-City entstehen. Mit Stadion, Halle, Schwimmhalle und olympischem Dorf direkt am Wasser. Der Gedanke der Nachhaltigkeit hat die Olympia-Ideen in Hamburg dominiert.
Das Stadion? Sollte nach den Spielen weitgehend zurückgebaut und in Wohnungen umgewandelt werden. Die Olympia-Halle? Hätte später ein Kreuzfahrtterminal werden sollen. Ein ambitioniertes, aber für damalige Verhältnisse innovatives Konzept.
"Dass wir auf dem Weg sicher unsere Schwierigkeiten gehabt hätten, jeweils die richtigen technischen Antworten zu finden, mag sein." Nikolas Hill, damaliger Chef der Bewerbungsgesellschaft
Nikolas Hill hat das damals mit entworfen. Es sei die beruflich intensivste Zeit seines Lebens gewesen, wie er heute sagt. Hill war Chef der Olympia-Bewerbungsgesellschaft, bei ihm liefen alle Fäden zusammen. Bis heute ist er von den Plänen überzeugt: "Es war so konzipiert, dass wir gesagt haben: 'Wie soll eigentlich unsere Stadt an den betroffenen Stellen, also insbesondere auf dem Kleinen Grasbrook, im Jahr 2040 aussehen? Von dort haben wir zurückgedacht, wie man dort auch für einige Wochen Olympische und Paralympische Spiele ausrichten kann.'"
Es gab nicht wenige, die Zweifel an diesen Ideen hatten. Gerade mit Blick auf die Umsetzbarkeit. Hill entgegnet: "Das war kein Blendwerk. Dass wir auf dem Weg sicher unsere Schwierigkeiten gehabt hätten, jeweils die richtigen technischen Antworten zu finden, mag sein. Aber es war nicht so, dass wir einfach nur schöne Bilder malen wollten, im Gegenteil." Als Beispiel führt er an, dass die bis heute vollständig versiegelte Fläche zu einem großen Teil auch aufgebrochen worden wäre und renaturiert, also eine grünere Fläche geworden wäre.
Grüne Spiele, Olympia der kurzen Wege. Kein Gigantismus. Zwei Drittel der Wettkampfstätten hätte es schon gegeben: das Volksparkstadion und das Millerntorstadion, die Tennis-Anlage am Rothenbaum, den Reitpark in Klein Flottbek. Die Segel-Wettbewerbe hätten wie 1936 und 1972 in Kiel-Schilksee stattfinden sollen. Andere Sportstätten wären nur temporär entstanden, etwa in den Messehallen.
Warum stimmten so viele Hamburger mit "nein"?
Das in Teilen innovative Konzept konnte die Bürgerinnen und Bürger in Hamburg dennoch nicht mehrheitlich überzeugen. Anders als in Kiel, wo eine klare Mehrheit für die Bewerbung gestimmt hatte. Es waren wohl viele äußere Faktoren, die für den Ausgang des Referendums eine Rolle spielten: die Kostenexplosionen und Verzögerungen bei anderen Großprojekten wie bei der Elbphilharmonie, dem Hauptstadtflughafen BER oder dem Bahnhofsprojekt "Stuttgart 21". Oder die Skepsis gegenüber dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) und dem Weltfußballverband FIFA infolge der jeweiligen Korruptionsskandale.
Zudem haben vermutlich auch der große Zustrom an Geflüchteten im Jahr 2015 sowie die Terror-Anschläge von Paris rund zwei Wochen vor dem Referendum dazu geführt, dass vielen Hamburgerinnen und Hamburgern nicht nach einem teuren, fröhlichen Sportfest zumute war.
Initiative "NOlympia" kämpfte gegen die Spiele
Natürlich hatte aber auch die Initiative "NOlympia" ihren Anteil daran, dass die Bewerbung gestoppt wurde. Allen voran Dirk Seifert. Er war damals einer der führenden Köpfe der Bewegung und hat intensiv dafür gekämpft, die Bewerbung zu verhindern. Für ihn überwiegen bis heute die negativen Seiten von Olympia: "Wir hätten ein paar mehr Wohnungen bekommen aber dann eben auch nur für die, die heute auch schon kein Problem haben, Wohnung zu mieten, weil sie das Geld dafür haben. Die, die es nicht haben, wären keine Hamburger mehr gewesen."
Klar, vielleicht hätte es "ein paar mehr Turnhallen in einem besseren Zustand gegeben, als das heute der Fall ist", sagt der kleine Mann mit Brille und Halbglatze. Dennoch stellt sich für ihn bis heute die Frage, was das genützt hätte, "wenn wir am Ende Wohnungen hier in der Stadt gehabt hätten, die das Doppelte gekostet hätten, weil das Preisniveau durch Olympia durch die Decke gegangen wäre?"
Olympia-Gegner befürchteten steigende Mieten und Verdrängung
Steigende Mieten, Verdrängung der bisherigen Bewohner, enorme Bau-Kosten: Olympia hätte aus Seiferts Sicht Konflikte in der Stadt weiter zugespitzt. Zudem zweifelt der heute 63-Jährige an, dass die innovativen Pläne wirklich so umgesetzt worden wären.
Mit neun Jahren Abstand gibt er - anders als damals - zu, dass er und seine Mitstreiter vom Abstimmungsergebnis überrascht waren: "Wir haben das Referendum nicht gewonnen, weil wir so gut waren, sondern weil die anderen so schlecht waren. Weil die andere Seite Fehler gemacht hat."
Fegebank: Fehlende Finanzzusage des Bundes war entscheidend
Katharina Fegebank war damals wie heute Zweite Bürgermeisterin von Hamburg. Die Grünen-Politikerin war - getreu dem Bewerbungsmotto - Feuer und Flamme für die Spiele. Mit Seiferts Vorwurf kann sie nicht viel anfangen: "Ich habe das gar nicht so empfunden, dass da große Fehler gemacht wurden."
Allerdings hätten sie und die Stadt sich zu sehr auf die Finanzierungszusage des Bundes verlassen. Doch die gab es bis zuletzt nicht. Sie und die Stadt fühlten sich damals vom Bund allein gelassen. Zwölf Milliarden Euro hätten die Spiele insgesamt kosten sollen, eingerechnete Einnahmen abgezogen noch gut sieben. Rund sechs Milliarden hätten vom Bund kommen sollen.
Corona, Kriege und Krisen hätten die Kosten getrieben
Ohnehin hatten die Organisatoren - mit dem Wissen der Kostenexplosionen bei anderen Großprojekten - sehr vorsichtig gerechnet und die erwarteten Kosten sehr hoch angesetzt. Und doch wären die Kostenschätzungen von damals nicht zu halten gewesen, gibt Fegebank heute zu.
Corona-Pandemie, stockende Lieferketten, Ukraine-Krieg, Inflation, Energiekrise: "Ich will nicht sagen, 'Gott sei Dank ist uns das alles erspart geblieben', wer weiß, ob man das alles so hinbekommen hätte, wie man die Welt 2015 gesehen hat. Aber ich denke natürlich auch, dass das eine riesige Chance gewesen wäre." Eine Entwicklungschance für den Sport - und die Stadt.
Wären die Spiele realistisch möglich gewesen?
Doch wären die Spiele realistisch betrachtet überhaupt möglich gewesen? Geschätzte acht Millionen Besucher wären in die Hansestadt gekommen - die Stau-Hauptstadt Deutschlands. Die A7 rund um den Elbtunnel ist bis heute und noch auf zig Jahre eine Dauerbaustelle. Genau wie der neue Fernbahnhof Diebsteich. In den Plänen hatte gestanden, beides müsse bis zu Olympia fertig sein.
Die Idee, die Stadtteile südlich der Elbe besser an das Zentrum anzubinden, schliefen mit dem Stopp der Bewerbung nach dem Referendum ein. Fegebank sagt, dass es aus heutiger Sicht "kaum möglich gewesen wäre, weil die externen Krisen und Schocks ganze Systeme durcheinandergewirbelt haben."
Irgendwie hätte man es hinbekommen, ergänzt die Grünen-Politikerin. Aber korrekterweise müsste es wohl heißen, dass man es hätte hinbekommen müssen. Und ein Großevent kann ja auch als Beschleuniger wirken.
Olympia in Hamburg? "Nicht mit der jetzigen Einstellung"
Die Entscheidung vor knapp neun Jahren hat Spuren hinterlassen in der Stadt - auch bei den Beteiligten von damals. Olympia und Hamburg? Ist bis heute nicht denkbar für Schwimmerin Bruhn: "Für mich macht es in den nächsten zwei Jahrzehnten keinen Sinn. Nicht mit der Situation, wie wir sie jetzt haben und nicht mit der Einstellung, die wir jetzt haben." Wenn, dann müsste man ein Konzept ins Auge fassen, in dem sich mehrere deutsche Städte in einer Bewerbung zusammenschließen, findet auch der ehemalige Chef der Bewerbungsgesellschaft Hill.
Und so bleibt im Hafen beim Blick auf die Elbe vorerst nur der Gedanke an Olympia. In Paris werden die Spiele am Freitag auf der Seine eröffnet, mit hunderten Booten mit Sportlerinnen und Sportlern aus aller Welt. In Hamburg sind dann nur Ausflugsboote und Hafenfähren unterwegs.