Mit dem Rad von Flensburg nach Garmisch: "Fahren, egal was wehtut"
Von Flensburg nach Garmisch: Zwei Ultra-Radsportler aus dem Norden sind beim "Race across Germany" dabei. Eine Tortur über 1.129 Kilometer in zweieinhalb Tagen - mit Schmerzen, Leiden aber auch Glücksgefühlen. Warum tun sie sich das an?
Mal eben von Flensburg nach Garmisch-Partenkirchen. Eine schöne Reise mit Bahn, Bus oder Auto - möchte man meinen. Aber auf dem Fahrrad? In nur zweieinhalb Tagen? Wer kommt denn auf eine solche Idee?
Fritz Geers und Tristan Werner aus Niedersachsen sind zwei von ihnen. Ultra-Radsportler, die dem inneren Schweinehund und 60 Stunden Zeitlimit trotzen und sich beim "Race across Germany" dem lockeren Wettstreit mit 66 anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern stellen.
Leidenschaft, die Leiden schafft
Warum sie sich das antun? So richtig erklären kann es keiner der verwegenen Radler, die am Startpunkt an der Flensburger Förde teils "ganz cool, bisweilen aber auch zitternd vor Aufregung" (Organisator Dieter Göpfert) dem Moment entgegenfiebern, in dem die 1.129 Kilometer lange "Tortour" beginnt. Leidenschaft, die Leiden schafft.
"Ich wusste, dass Schmerzen kommen. Dass es so krass ist, hätte ich nicht gedacht." Extremsportler Tristan Werner
"60 Stunden ist mein Zeitfenster", sagt Werner in der Sportclub Story und beschreibt vor seinem Debüt die eigene Motivation, beim hierzulande bedeutendsten Ultra-Cycling mitzumachen: "Ob ich es schaffe, in diesem Zeitraum durchzufahren, reizt mich. Und wie mein Körper es verträgt, auch mit den Schmerzen umzugehen."
Kopfschmerzen und anspruchsvolle Ziele
Die Kette geölt, Sitz- und Sonnencreme reichlich aufgetragen und immer genug Ernährung dabei, so machen sie sich - getreu ihrem Wahlspruch - auf den Weg ins ferne Bayern. 48 Stunden heißt für manche das anspruchsvolle Ziel, wobei die Zeit der eher kurzen Rast mit ein bisschen Schlaf mitgerechnet wird. "Ich fühle mich vom Kopf her gut, habe aber die letzten zwei Wochen krank im Bett gelegen", sagt Geers. "Natürlich keine optimale Vorbereitung, was mir ziemliche Kopfschmerzen bereitet."
Regen und Baustellen
Langsam lässt er es deshalb angehen. Und es läuft ganz gut - zunächst jedenfalls. Selbst Baustellen und gesperrte Straßen schrecken nicht, Abkürzungen sind rasch gefunden. Nur der Regen, der schon in Lauenburg an der Elbe heftig einsetzt, trübt zusehends die Stimmung. "Man könnte anhalten und sich eine Regenjacke überziehen. Aber das kostet Zeit", erzählt Geers im Vorbeifahren.
Der "Race across Germany"-Sieger von 2019 wird von einem Team begleitet. Anders als Werner, der ohne derartige Unterstützung unterwegs ist. Und (noch) frohgelaunt behauptet: "Fahren, egal was wehtut."
Tüftler Geers muss passen
Für Geers geht es diesmal um mehr als die bloße sportliche Herausforderung. Der Tüftler aus Clausthal-Zellerfeld will sich auf der Strecke ausschließlich flüssig ernähren - als Test für sein Projekt "quer durch Amerika" im nächsten Jahr. "Wir wollen ausprobieren, wie es ist, wenn ich ausschließlich dieses Zeug trinke." Doch der Test bleibt ohne Ergebnis. Früh schon muss er sich eingestehen, "dass es hier und jetzt nicht weitergeht".
"Jetzt ist Endstation; es geht nicht weiter." Fritz Geers, Rennsieger von 2019
Geers muss aufgeben, nachdem er, rechtschaffen entkräftet, mehr vom Rad gefallen denn gestiegen ist, wie sein Begleitteam nach der Rückkehr in den Harz erzählt. Es sei immer zäher gegangen, und als ihm die Luft plötzlich weggeblieben sei, wusste er: "Jetzt ist Endstation; es geht nicht weiter." Total erschöpft und in eine Decke gehüllt, bringen ihn die Helfer nach Hause. Schluss, aus und vorbei - ab ins (Kranken-)Bett.
Kilometer fressen ist angesagt
"Schlafen, oh ja, darauf freue ich mich - und duschen", sagt Werner nach geschaffter erster Etappe. Erst noch schnell abmelden beim Organisator und dann ab in die Horizontale. Zwei, drei Stunden, ein Power-Nap wenigstens - mehr erlaubt der straffe Zeitplan nicht.
Es ist noch dunkel, als es weitergeht. "Aber die Lust ist noch nicht so da", gesteht er. Müde zurrt er seinen Helm fest und rollt eher missmutig dem Sonnenaufgang entgegen. Kilometer fressen ist gleichsam angesagt.
Langsam, aber stetig kommt der Röstmeister aus Burgdorf bei Hannover wieder ins Rollen. Die wiederkehrenden Selbstzweifel sind nach der Hälfte der Distanz fast schon zur Routine geworden. "Jetzt können wir ja nicht mehr aufhören", sagt er sich, radelnd im Selbstgespräch, und ein bisschen Galgenhumor ist bestimmt auch dabei. "Der Spaß kommt vielleicht unterwegs, Richtung Zieleinlauf spätestens."
Aufgeben? Keine Option!
Womöglich erinnert sich Werner in diesen destruktiven Momenten an seine launigen Worte vom Startpunkt, als er frotzelnd meinte: "Kann man noch abbrechen?" Aber nun läuft es gut und das noch einige hundert Kilometer entfernte Ziel kommt immer näher. Aufgeben? Keine Option!
Werner lacht sogar und schüttelt das Haupt mit Helm und Sonnenbrille. Die Erfahrungen aus seinem Beruf, den er seit 20 Jahren ausübt, könnten ein Grund für sein Durchhaltevermögen sein, vermutet er: "Konzentriert arbeiten, fokussiert sein und auf Details achten."
Werner: "Bin ich bekloppt?"
Gut die Hälfte ist geschafft, aber die Zweifel bleiben. "Eine zähe Veranstaltung, jetzt kommen die Höhenmeter." Beißen ist in den Bergen angesagt, der Kampf gegen den inneren Schweinehund, der verlockend und unaufhörlich rät aufzuhören. Aber Werner hört einfach nicht hin, tritt in die Pedale und vertreibt die zerstörerischen Gedanken: "Ich will mir beweisen, ob ich den Schmerzpunkt überwinden kann."
"Wichtig ist, dass du dich nicht übernimmst, mein Freund." Der Vater von Tristan Werner zur "Halbzeit"
In Röhrda (Werra-Meißner-Kreis, 279 Meter über dem Meeresspiegel) sind rund 600 Kilometer geschafft. Werners Eltern sind gekommen. Es tut gut: Umarmungen, was zu essen - und aufbauende Worte. "Bin ich bekloppt?", plappert er leise vor sich hin. Vater Werner grinst und entgegnet: "Das kannst du wohl laut sagen." Aber so negativ hat er es gar nicht gemeint, auch wenn er seine Sorgen nicht kleinreden will. "Wichtig ist, dass du dich nicht übernimmst, mein Freund", sagt der Vater. "Wenn es nicht mehr geht, hörst du auf, ist egal." Tristan Werner tut's sichtlich wohl - ein Motivationsschub.
Kopfkino vor der finalen Etappe
Scheint bitter nötig zu sein. Stupide spult er sein Pensum herunter, frisst Kilometer und versucht beharrlich, alles Negative auszublenden. Werner lässt seine Gedanken kreisen, denkt einen Tag voraus und plant schon mal die Kilometer der letzten Etappen: "Noch mal fünfzig", denkt er, "noch mal fünfzig, noch mal hundert, noch mal hundert … So ernährt sich das Eichhörnchen, wie man so schön sagt." Ein bisschen Schlaf vor der finalen Strecke stoppt das Kopfkino.
Werner im Ziel - ein Bild fürs "Gruselkabinett"
In Garmisch-Partenkirchen bei Kilometer 1.129 wartet Organisator Göpfert. "Man hört die Nachrichten, wie Tristan leidet, und fragt sich: Wie soll er das schaffen? Aber der letzte Satz ist immer: Stell das Bier kalt!" 50 Fahrerinnen und Fahrer erreichen das Ziel.
"Langsam realisiert man, was man geschafft hat", stöhnt Werner. "Jetzt freu ich mich aufs Nichtstun." Ein weißes Trikot mit schwarz-rot-goldenen Streifen und der Aufschrift "RACE ACROSS GERMANY" hat er mühsam übergestreift. Alles tut weh - so sieht es auch aus auf dem Bild fürs "Gruselkabinett", wie es Göpfert ausdrückt.
Und Werner zieht ein Fazit, das durchaus als Warnung für Nachahmer verstanden werden darf: "Ich wusste, dass Schmerzen kommen. Dass es so krass ist, hätte ich nicht gedacht."