Ingo Schultz - Aus dem Nichts zu WM-Silber
44,66 Sekunden. So schnell wie Ingo Schultz war 18 Jahre lang kein westdeutscher Leichtathlet über die Stadionrunde gelaufen. Es ist die drittschnellste Zeit überhaupt, die der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) in seinen Annalen führt, gleich hinter dem Europarekord von Thomas Schönlebe (Chemnitz/44,33) bei seinem WM-Titelgewinn 1987 in Rom und dessen Rekordvorgänger Erwin Skamrahl (Groß-Ilsede/44,50) beim "Internationalen" in München 1983. So schnell wie Schultz im WM-Halbfinale von Edmonton 2001 ist auch seither kein deutscher 400-m-Läufer mehr gerannt, auch er selbst nicht. Obwohl dem spät zündenden "Newcomer" nach dem sensationellen Gewinn der Silbermedaille in Kanada eine große Zukunft vorhergesagt wurde. Doch der sportliche Zenit des hoch aufgeschossenen Emsländers mit Gardemaß von 2,01 m war da bereits erreicht. Nur konnte das niemand ahnen.
Vom Spaß-Marathoni zum ernsthaften Viertelmeiler
Zu sehr ergötzte sich Leichtathletik-Deutschland an dem buchstäblich märchenhaften Aufstieg des damals schon 26 Jahre alten Berufssoldaten aus Lingen, der an der Bundeswehr-Hochschule in Hamburg Elektrotechnik studierte und dort von Trainer Jürgen Krempin entdeckt wurde. Schach, Geige und Gesang gehörten zu den wenig sportlichen Hobbys des Modell-Athleten. Ein Marathonlauf "just for fun" in Hamburg markierte den Beginn der leichtathletischen Karriere von Ingo Schultz 1997. Zwei Jahre später war er bereits Vierter bei den Deutschen Meisterschaften in Erfurt, Anfang 2000 in Gent Hallen-Vizeeuropameister mit der 4x400-m-Staffel. Olympia 2000 in Sydney verpasste Schultz wegen eines zunächst nicht erkannten Leistenbruchs. Nicht eine Verletzung, sondern Bürokratie verhinderte anschließend beinahe den Fortgang von Schultz' sportlicher Laufbahn: Laut einem Schreiben der Bundeswehr an ihren Oberleutnant sei es nicht vorgesehen, dass Offiziere Leistungssport trieben. Erst eine Eingabe von DLV-Vizepräsidentin Dagmar Freitag beim damaligen Verteidigungsminister Rudolf Scharping machte den Weg frei für den hoffnungsvollen 400-m-Mann.
Unbefangen zum WM-Silber
Unter dem "Kommando" von Jürgen Krempin entwickelte sich Schultz ebenso schnell wie aussichtsreich. Rang vier beim Europacup und Platz zwei bei den deutschen Meisterschaften 2001 zeugten vom Potenzial des zusehends selbstbewussten Viertelmeilers, dem - mangels größerer Erfahrung - offenbar jegliche Angst vor der Stadionrunde abging, die die Amerikaner gern "man-killer-event" nennen. Bei der WM in Edmonton sollte "Super-Ingo", wie ihn seine Fans später nannten, diese Unbefangenheit zugute kommen. Über 45,11 Sekunden im Vorlauf steigerte sich Schultz auf kaum glaubliche 44,66 im Halbfinale und in 44,87 stürmte er im Endlauf hinter Avard Moncur (Bahamas/44,64) auf den Silberrang. "Auf der Zielgeraden kamen zwei an mir vorbei, einen davon habe ich noch umgehauen", erzählte der kometengleich in die Weltklasse aufgestiegene Oberleutnant danach.
Gold in München emotionaler Höhepunkt
Für die Heim-EM 2002 in München hatte sich Schultz damit in die Pole Position gebracht. Vielleicht ist es sein größtes Verdienst, dem öffentlichen Erwartungsdruck standgehalten und unter dem frenetischen Applaus von 50.000 im Olympiastadion im August 2002 tatsächlich Einzel-Gold über die Stadionrunde geholt zu haben. Dem interessierten Publikum indes ist auch die schlagzeilenträchtige ad-hoc-Trennung von Schwimmer-Freundin Antje Buschschulte in Erinnerung geblieben, die Schultz noch am Abend seines größten sportlichen Erfolges vollzog. Tage später gehörte der "Lange" als eher enttäuschender Startläufer einer 4x400-m-Staffel, in der zudem die Nummer zwei Jens Dautzenberg nach einer Rempelei zu Boden ging, zu den Verlierern. Strahlende Erfolge wie 2001 und 2002 blieben dem "Leichtathleten des Jahres" fortan versagt. Krankheit (Pfeiffersches Drüsenfieber, wie später diagnostiziert wurde) und Verletzungen (Plantarsehnenbeschwerden) verhinderten bei der WM 2003 in Paris und bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen die erhofften - und von Schultz bisweilen vollmundig angekündigten - starken Auftritte. 2005 blieb verletzungsbedingt ein Jahr ganz ohne Wettkämpfe. Auch die EM 2006 fand ohne ihn statt.
Karriere-Aus 2008 nach langer Leidenszeit
Da hatte sich Schultz schon länger aus seiner norddeutschen Heimat verabschiedet und von Erfolgscoach Krempin getrennt. Mit Ehefrau Heidi und deren zwei Kindern zog es den diplomierten Elektrotechniker in den Westen, um bei Bayer Leverkusen in die Spur des Erfolges zurückzufinden. Zu mehr als Platz zwei im Europacup 2007 in München und WM-Rang acht in Osaka 2007 jeweils mit der 4x400-m-Staffel sowie seine Hoffnungen neu beflügelnden zwei deutschen Hallentiteln im Februar 2008 reichte es allerdings nicht. "Dass es nicht mehr geht", dämmerte dem Schultz erst später. Am Ende der Olympiasaison 2008 - nach abermaligen Beschwerden an der Plantarsehne - hängte der einstige Vize-Weltmeister die Laufschuhe an den Nagel.