Handball-EM: Bundestrainer Gislason träumt vom Halbfinale und hofft auf Wolff
Die Heim-EM im Januar ist für Erfolgscoach Alfred Gislason eine der größten Herausforderungen seiner Karriere. Trotz Absagen wichtiger Spieler und einer kurzen Vorbereitung glaubt der Handball-Bundestrainer aber an sein junges Team.
Der Geysir beginnt zu brodeln. Nur noch 80 Tage sind es bis zum Eröffnungsspiel gegen die Schweiz bei der ersten Handball-Europameisterschaft in Deutschland. Den Bundestrainer plagen etliche Baustellen, aber der Titelsammler aus Island, der in Kiel und Magdeburg zu einem der erfolgreichsten Vereinstrainer überhaupt wurde, lässt sich die stetig steigende Anspannung nicht anmerken. "Man glaubt immer, dass man Erfolg haben wird", sagt Gislason lächelnd im NDR Sportclub. "Und letztlich bin ich ja auch sehr viel entspannter geworden mit den Jahren."
Alfred Gislason: Vorsicht vor dem ruhenden Vulkan!
Vorsicht ist trotzdem geboten, weiß Einar Jönsson: "Alfred ist ganz ruhig, aber auf einmal bricht es heraus wie bei einem Vulkan." Sie kennen sich gut - der deutsche Bundestrainer und der frühere Handball-Nationalspieler Islands, der heute als Fernseh-Kommentator arbeitet. Gerne mag man Jönsson daher folgen, wenn es um die seiner Meinung nach guten Chancen bei der Heim-EM vom 10. bis 28. Januar 2024 geht. "Alfred sagt immer: Halbfinale, Medaille - egal wer spielt. Das ist sein Anspruch." Und besser noch: "Alles, was er anfasst, wird zu Gold."
"Der Handball wird mich nicht so schnell los“ Bundestrainer Alfred Gislason
Schöne Worte für den 64-Jährigen, der Höhen und Tiefen nur zu gut kennt - im Sport wie auch im Leben. Trauer und Leid hat er überwunden, das Glück wiedergefunden und seine vielleicht größte Herausforderung im Handball nun fest im Blick: "Das Halbfinale wäre ein Traum. Aber eine EM verzeiht nichts; da sind nur gute Mannschaften am Start."
Im März 2020 ist er als Nachfolger von Christian Prokop Nationaltrainer geworden - und das nicht nur so für ein paar Monate, sondern um länger zu bleiben. Sein Vertrag mit dem Deutschen Handball-Bund (DHB) läuft bis nach den Olympischen Spielen in Paris 2024. Solange er aber das Gefühl habe und überzeugt sei, etwas vermitteln zu können, werde er gerne weitermachen, sagt Gislason. "Der Handball wird mich nicht so schnell los."
Bundestrainer hat gelernt, lockerer zu sein
Trotz aller Kritik, die sich nach wenig erbaulichen Turnieren laut "Spiegel" zuletzt im Hintergrund gemehrt haben soll. Die Weltmeisterschaft in Ägypten 2021 brachte mit Platz zwölf ein historisch schlechtes Ergebnis. Bei der EM im Jahr darauf reichte es zu Platz sieben. Auch die WM zum Anfang dieses Jahres wurde mancherorts als Zeichen eines stockenden Umbruchs gedeutet, was Gislason im NDR bestreitet: "Wir haben eine gute WM gespielt in Polen und Schweden, sind Fünfter geworden mit vielen jungen Spielern, die jetzt ein Jahr älter und reifer sind und Erfahrungen gesammelt haben."
Gislason ficht die Kritik nicht an - zumindest hat es den Anschein. Er ruht in sich, mehr als früher - hat die schlimme Zeit mit dem Krebstod seiner Jugendliebe, mit der er über 40 Jahre verheiratet war, hinter sich gelassen. "Es war sehr schwer", sagt er sichtlich bewegt. "Aber man lernt nach einem so langen Kampf, der verloren geht, etwas lockerer mit anderen Dingen umzugehen." Eigentlich wollte er kürzertreten und erkannte doch: "Der Handball hält einen auch am Leben."
Entspannung mit der Familie in der Heimat
Gutes Leben - das ist für den am 7. September 1959 in Akureyri im Norden Islands geborenen Gislason seine Heimat, das karge und zugleich wunderschöne Land, die Familie, Freunde, Kinder und Enkelkinder. Nur auf die hässlichen acht Monate Winter könne er gerne verzichten, sagt er.
Entspannung suchte er jüngst mit seiner neuen Liebe, der Autorin Hrund Gunnsteinsdottir, daheim auf der Insel, ließ es sich im Kreis der großen Familie gut gehen. Dem NDR erlaubte er ungewohnt private Bilder, cool im Pool, rasant im Offroad-Rennen mit seinem älteren Bruder Hjörtur: "Da sind wir wie kleine Jungs. Wir haben uns schon früher immer duelliert."
"Er ist explosiv in vielen Dingen." Gislasons Freundin Hrund Gunnsteinsdottir
"Er ist explosiv in vielen Dingen", sagt seine Partnerin, die ihm ein gutes Stück zurück ins Leben geholfen hat. "Alfred hat ein gutes Einfühlungsvermögen, kann Charaktere erkennen, möchte jeden verbessern und ist auch deswegen ein richtig guter Trainer." Der nach eigener Einschätzung einen Fehler hat: "Manchmal muss ich mich schämen, wie ich die Bewegungen der Spieler an der Seitenlinie nachmache." Im Beruf sei er sicherlich nicht ganz so entspannt wie bei dem kurzen Heimaturlaub. "Jetzt merke ich schon, dass ich fokussierter werde. Im Januar bin ich dann komplett in einer Mühle und denke nur noch an Handball."
Letzte Tests gegen Ägypten
Eigentlich ist es jetzt schon so. In einer kurzen Vorbereitung stehen am 3. November in Neu-Ulm und zwei Tage später in München Länderspiele gegen Ägypten auf dem Plan. An drei Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr und dann vom 1. Januar an soll der Feinschliff gelingen. Die erfahrenen Paul Drux und Fabian Wiede von den Füchsen Berlin werden verletzt nicht dabei sein; hinter Weltklasse-Torhüter Andreas Wolff steht nach seinem Bandscheibenvorfall ein Fragezeichen. Obwohl er meint: "Ich bin zuversichtlich. Entscheidend aber ist, dass der Körper mitspielt."
Ohne Drux, Wiede und Pekeler
"Der Torwart ist im Handball der wichtigste Mann", ist Gislason überzeugt. "Andy hat viel für das Team geleistet und war der beste Torhüter bei der letzten WM. Er ist ausgeglichener geworden; ein absoluter Weltklassetorhüter, der unserer Mannschaft sehr viel helfen kann." Während Gislason auf Wolff noch hoffen darf, hat ihm Hendrik Pekeler von Meister THW Kiel vor ein paar Tagen endgültig abgesagt. Der operierte linke Fuß bereite nach wie vor Probleme: "Ich wollte den Trainer nicht enttäuschen, bin aber leider noch nicht so weit, wie ich gerne wäre."
EM als Chance für Talente wie Justus Fischer
Ein Rückschlag für Gislason: "Wir haben die Mannschaft zwei Jahre verjüngt und versucht, zusammenzuhalten." Pekeler, den er aus erfolgreichen Zeiten bei den "Zebras" bestens kennt, wird auch als Stütze für die jungen Spieler vermisst. "Er ist ein Weltklassespieler und besonders wichtig, weil er so flexibel ist, gleichermaßen stark in Abwehr und Angriff."
Sein Fehlen könnte eine Chance sein für Justus Fischer ("Das überragende Talent von der TSV Hannover-Burgdorf", so Gislason), den er bereits für die Länderspiele im April gegen Schweden und Spanien nominiert hatte, seinen Teamkollegen Marian Michalczik oder auch Frisch auf Göppingens Sebastian Heymann.
Erste Medaille seit sieben Jahren?
Los geht es bei der EM für das DHB-Team am 10. Januar 2024 in Düsseldorf gegen die Schweiz, es folgen die Begegnungen gegen Nordmazedonien (14. Januar) sowie gegen Frankreich (16. Januar). Gislason macht seine Rechnung auf: "Wenn wir die ersten beiden Spiele gewinnen und gegen Frankreich verlieren, dann dürfen wir kein Spiel mehr verlieren, um ins Halbfinale zu kommen - normalerweise."
Aber diesem Ziel, der vielleicht sogar ersten Medaille seit sieben Jahren, stehen Hochkaräter wie "Spanien, Island, Kroatien, Ungarn, Serbien oder wer auch immer da kommt" im Weg. "Von daher", so Gislason, "müssen wir sehr konstant sein."
Keine Angst vor großem Stadion in Düsseldorf
Oder wie es Keeper Wolff nennt: "Je weiter du kommst, umso unvergesslicher wird es. Die Weltmeister von 2007 werden niemals vergessen, was sie damals vollbracht haben. Wir müssen schauen, dass wir gut ins Turnier reinkommen, uns in einen Flow reinspielen und dann einfach gucken, dass wir - von den Fans getragen - mit dieser Welle so weit nach vorne schwimmen wie nur irgend möglich."
Oder werden die erwarteten 50.000 Zuschauern im Stadion von Düsseldorf, in dem üblicherweise die Fortuna in der 2. Fußball-Bundesliga spielt, mehr Belastung als Motivation sein? "Ich hoffe auf die Wechselwirkung zwischen Mannschaft und Zuschauern", so Gislason. "Schließlich ist das Feld genauso groß wie in der Halle."