Geläutert und gereift: Nationalkeeper Wolff als Vorbild zur EM
Andreas Wolff ist nach seinem schweren Bandscheibenvorfall rechtzeitig zum Start der Handball-EM wieder im Vollbesitz seiner Kräfte. Und der Nationaltorhüter geht "geläutert" in das Turnier - besonders seine Zeit beim THW Kiel betrachtet er rückblickend mit anderen Augen.
Sein Motto klingt fast philosophisch: "Du musst groß träumen: Du kannst nicht nach den Sternen greifen, wenn du denkst, der Himmel ist die Grenze." Und nach den Sternen gegriffen hat der mittlerweile 32-Jährige bereits vor sieben Jahren. Nach seiner Zeit bei der HSG Wetzlar stand sein Wechsel zum großen THW Kiel bereits fest. Da gewann er mit dem deutschen Team 2016 erst die Europameisterschaft in Polen und im folgenden Sommer mit Deutschland bei Olympia in Rio de Janeiro auch noch Bronze.
"Ich bin mit dem Gedanken in die Vertragsunterschrift gegangen, mich da irgendwie zum Weltklasse-Torhüter hochzuspielen und zu versuchen, viel zu lernen", erinnert sich Wolff an die Zeit vor seinem Wechsel an die Förde. "Aber auf einmal hat man diesen Schritt übersprungen und war auf einmal ein Weltklasse-Torhüter. Ich hatte dann andere Voraussetzungen. Ich wollte spielen und auf der höchsten Ebene meine Spielzeiten sammeln."
Beim THW war im Tor Landin gesetzt
Das Problem: Mit dem Dänen Niklas Landin, der ein Jahr zuvor zum THW gekommen war, hatten die "Zebras" eine klare Nummer eins. Ein Umstand, den Wolff so nicht akzeptieren wollte. Von "blindem Ehrgeiz" und Egoismus sei er damals getrieben gewesen. "Ich muss immer der Beste sein, ich muss immer alles sofort zeigen, ich muss, ich muss, ich muss."
"Ich hatte eine schwierige Zeit. Auch weil mein Verhalten nicht immer einwandfrei war." Andreas Wolff über seine THW-Zeit
Dass er "so ein bisschen als rotzfrecher Bengel" zum deutschen Rekordmeister kam, gefiel nicht jedem. Bundestrainer Alfred Gislason, der damals noch Chefcoach in Kiel war, hat Wolff als "extremen Hitzkopf" kennengelernt. Fakt ist: Unter dem Strich war Wolffs Kieler Zeit nicht sonderlich erfolgreich. Bei den wichtigen Spielen bekam meist Landin den Vorzug - und zu feiern gab es eben auch nur wenig.
Ein Kunststück sei es, dass er in den drei Jahren beim THW nicht einmal deutscher Meister geworden ist, sagt er selbst. Dafür feierte Kiel direkt im Jahr nach seinem Abgang nicht nur wieder den nationalen Titel, sondern auch den Triumph in der Champions League.
Wolff: "Wechsel nach Kiel war immer mein Traum"
Den Wechsel an die Förde ("War schon immer mein Traum") bezeichnet Wolff zwar nicht als Fehler. "Aber es war eine krasse Änderung, weil die Erwartung eine andere war. Ich hatte eine schwierige Zeit. Auch weil mein Verhalten nicht immer einwandfrei war", erklärt der 1,98-Meter-Mann, der allerdings auch eine Mitschuld bei "der damaligen Geschäftsführung" sieht. Wolff legt allerdings Wert darauf zu betonen, "dass Niklas und ich sehr gut harmoniert haben. Wir haben uns untereinander sehr gut verstanden, und ich habe von ihm einiges gelernt."
Nach EM-Titel: Handball-Torhüter wird Medienstar
2019 wechselte Wolff nach Kielce - und verschwand so ein bisschen aus der deutschen Öffentlichkeit. Was ihm nach Jahren im Fokus, den er nach dem EM-Titel selbst gesucht hatte, durchaus recht war: "Ich bin von einer TV-Show zur nächsten. Da in einer Talkshow, da Interviews gegeben. Und irgendwie habe ich in der Mitte die Zeit für mich selber verloren." Der Trubel sei ihm irgendwann einfach zu viel geworden.
"Andreas ist unser Moderator im Team, gefühlt 24/7 am Reden. Den 'Aus-Knopf' habe ich auch noch nicht gefunden." Nationalspieler Timo Kastening
Mit Kielce wurde Wolff bisher jedes Jahr polnischer Meister, 2021 zudem Pokalsieger. 2022 und 2023 stand er im Finale der Champions League. Und seine Popularität bei der Nationalmannschaft ist ungebrochen. Wolff ist seit 2016 eines der Gesichter des deutschen Handballs.
2021: Riesenwirbel nach Kritik an seinen Mitspielern
Sein Wort hat Gewicht. Das musste er auch feststellen, als er vor der WM 2021 inmitten der Corona-Pandemie seine ehemaligen Kieler Teamkollegen Steffen Weinhold, Hendrik Pekeler und Patrick Wiencek, die ob der Situation lieber bei ihren Familien bleiben wollten, öffentlich harsch kritisierte und dafür selbst viel Kritik erntete.
Heute sagt Wolff: "Da habe ich deutlich über die Stränge geschlagen. Da war jede Kritik, die von Verantwortlichen oder von Mitspielern kam, auch absolut gerechtfertigt. Da hat der eine oder andere ja sogar noch Milde walten lassen bei der Aussage, die ich da getroffen habe."
Gislason: "Wolff ist anders, reifer geworden"
Nun also die EM im eigenen Land - die er fast verpasst hätte. Vor fünf Monaten erlitt der "Titan" einen Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule. Einige Ärzte sprachen vom Karriereende. Schon eine OP hätte für ihn wohl das Aus für das große Ziel bedeutet. Beides keine Option für den Keeper, der mit harter Arbeit in der Reha rechtzeitig fit geworden ist.
"Er kann der Mannschaft unwahrscheinlich viel geben. Bei der letzten WM war er der beste Torhüter", betont der selbst oft feurige Isländer Gislason und fügt hinzu: "Er ist anders, reifer geworden. Und dadurch ist er ein Weltklasse-Torhüter geworden."
Auch Mitspieler Timo Kastening lobt den Keeper: "Er ist mit der Zeit immer lockerer geworden und nicht mehr so verbissen wie früher. Er tut uns gut."
Wolff hofft auf eine "fantastische Heim-EM"
Diese mentale Veränderung ist in den vergangenen Jahren Stück für Stück gekommen. Wolff arbeitete mit einer Psychologin zusammen und ist dadurch nach eigener Aussage deutlich entspannter. Auch nachsichtiger - bei seinen Teamkollegen, aber auch, was die eigenen Leistungen betrifft.
"Ich hoffe, dass meine Rolle im Team jetzt eine etwas andere ist. Dass ich meinen Mitspielern auch das Gefühl gebe, dass ich sie respektiere, dass ich sie wertschätze", betont Wolff, der gerade für die jungen Spieler auch Vorbild sein möchte.
Der Nationalmannschaft traut er bei dem anstehenden Turnier viel zu: "Wir wollen eine fantastische Heim-EM spielen, die optimalerweise in dem EM-Titel gipfelt, was dann auch zur Olympia-Teilnahme führt." Da sind sie wieder die Sterne, nach denen Wolff greifen will. Aber wer nicht groß träumt, kann getreu seinem Lebensmotto diese eben auch nicht erreichen.