Datenanalyse: Passt Stürmer Selke zum HSV und zu Glatzel?
In Davie Selke hat Fußball-Zweitligist HSV einen sehr ähnlichen Stürmer geholt wie Robert Glatzel. Nun steht Trainer Steffen Baumgart vor der Frage, ob und in welchem System er mit den ähnlichen Alpha-Angreifern agieren möchte. Die Daten sprechen eine klare Sprache.
Einer Sache kann sich der HSV kurz vor dem siebten Jahr in der 2. Liga absolut gewiss sein. Vollkommen ligaunabhängig ist er unverändert einer der am heißesten und am leidenschaftlichsten diskutierten Fußball-Vereine der Republik - von den eigenen Anhängern ebenso wie von Fans anderer Clubs. In Zuneigung und Ablehnung, in Freude und Schadenfreude, in Liebe und Lästerei.
Unter der Woche haben die Hamburger dieser deutschlandweiten Dauer-Diskussion neue Nahrung geliefert. Nicht aufgrund eines neuen Deals mit Investor Klaus-Michael Kühne, nicht wegen des weiteren Versuchs einer Strukturreform - und auch nicht durch eine abermals verpasste Rückkehr in die Bundesliga. Der Club hat, im Sommer ja durchaus üblich, einen Spieler verpflichtet: Davie Selke.
Selke-Transfer zum HSV heiß diskutiert
Wohl selten in der jüngeren, durchaus bewegten Geschichte des HSV hat ein Neuzugang zu einer kontroverseren Debatte geführt - auch und gerade unter den eigenen Fans. In den Sozialen Medien hagelte es Posts der kompletten Bandbreite, von großer Begeisterung bis hin zu komplettem Unverständnis.
Und dazwischen oft ein schlichtes: Warum? Wieso holen die Hamburger - mittlerweile Zweitliga-Dino - in Selke einen Spieler, der wie Glatzel seine Stärken als Stoßstürmer hat? Einen Zielspieler, der ihm nicht nur in seiner Spielweise ähnelt, sondern auch in der physischen Erscheinung (Selke: 1,95 Meter, 85 Kilogramm; Glatzel: 1,93 Meter, 85 Kilogramm). Einen Fußballer, den das Global Soccer Network (GSN) in seinen Eigenschaften zu 92,5 Prozent als deckungsgleich beschreibt.
Können Glatzel und Selke zusammen funktionieren?
Claus Costa, Direktor Profifußball, sagte bei Selkes Präsentation, man stelle den Kader mit der Verpflichtung des 29-Jährigen "sowohl in der Breite als auch in der Spitze noch besser auf". Seine Körperlichkeit werde das "Offensivspiel definitiv bereichern", das habe er "bei seinen bisherigen Stationen immer wieder unter Beweis gestellt. Und nicht zuletzt aufgrund seiner Erfahrung wird er in unserer Mannschaft eine wichtige Rolle einnehmen."
Und doch bleibt die Frage, des "Warum" - verbunden mit der nach dem "Wie": Wie sollen zwei so ähnliche Spieler- und Stürmer-Typen zusammen agieren? Zwei Akteure zumal, die in einem Zweitliga-Team legitimerweise den Anspruch stellen, Angreifer Nummer eins zu sein.
Beide haben in der 2. Liga verlässlich getroffen
Glatzel war das in den vergangenen Jahren. Er war es zurecht und unumstritten, weil er überaus konstant geliefert hat. Der 30-Jährige hat in drei Jahren in Hamburg in 113 Partien 69 Treffer erzielt und 14 weitere vorbereitet. In der vergangenen Zweitligasaison war er mit 22 Toren der treffsicherste Schütze im Unterhaus. Sein aktueller GSN-Index liegt bei 68,99, was ihn als guten Bundesligaspieler einstuft.
Selke kommt auf 238 Bundesliga-Begegnungen, in denen er 46 Tore erzielte und an 66 Treffern direkt beteiligt war. Eine Quote, die er auch mit 13 Torbeteiligungen (zehn Treffer, drei Assists) in seinen 30 Zweitliga-Partien erreichte. Sein GSN-Index: 67,97 (solider Bundesligaspieler).
Strebt Baumgart eine Systemänderung an?
Für den HSV stellt sich nun die Frage, ob Baumgart mit den beiden - zumindest für die 2. Liga - Alpha-Angreifern eine Systemänderung hin zu einer Doppelspitze vollzieht? Werder Bremen agierte in seiner einjährigen Stippvisite in der 2. Liga mit Marvin Ducksch und Niclas Füllkrug in der Saison 2021/2022 beispielsweise so. Zuletzt hatte Baumgart geäußert, dass er durchaus plane, manche Partie mit zwei Spitzen angehen zu wollen.
Seit seiner Amtsübernahme hatte der 52-Jährige das von Vorgänger Tim Walter gepflegte 4-3-3-System mit Glatzel als Stoßstürmer weiter spielen lassen. Aus gutem Grund. Es war den GSN-Daten zufolge das optimale System für den HSV-Kader der Saison 2023/2024.
Vom 4-4-2 über das 4-2-3-1 zu einem 3-4-1-2?
Bei seinen vorherigen Stationen hatte er allerdings andere Systeme bevorzugt: Paderborn führte er mit einem 4-4-2 in die Bundesliga (2018/2019), in Köln setzte er meist auf ein 4-2-3-1. In den ersten beiden Testspielen der Vorbereitung - 12:0 gegen Landesligist TuS Neetze und 5:1 gegen Regionalligist SV Drochtersen/Assel - agierten die Hamburger nun in einem 3-4-1-2. Optionen und Gedankenspiele gibt es offenbar genug.
Laut GSN ist ein 4-4-2 für den HSV die bestmögliche Formation mit zwei Angreifern. Es wäre allerdings insgesamt nur das zwölftbeste System anhand der zur Verfügung stehenden Spieler des aktuellen Kaders. Das Votum der GSN-Analysten fällt klar aus: "Die taktische Analyse zeigt, dass es für den Club effektiver wäre, nur einen der beiden Zielspieler, vorzugsweise Glatzel, einzusetzen."
Sehr ähnliche Stärken und Schwächen
Das nicht zuletzt, weil typischerweise zwei unterschiedliche Spieler mit Komplementäreigenschaften, also mit sich ergänzenden Stärken, nebeneinander besser funktionieren. So, wie es Stadtnachbar St. Pauli unter Neu-Coach Alexander Blessin in einem 3-5-2 mit einem Zielstürmer neben einem mobilen Angreifer in der Bundesliga probieren könnte.
Die Daten für den HSV jedenfalls machen klar: Die Stärken von Selke und Glatzel sind sehr ähnlich - von Abschluss über Antizipation, Kopfballspiel, Sprungkraft und Zweikampfstabilität bis hin zu ihrem hohen Einsatzwillen (Work Rate).
Spielzeit | Tore | Vorlagen | Schüsse | Schüsse auf das Tor |
---|---|---|---|---|
1.000 | 5 | 0 | 26 | 12 |
1.500 | 7 | 0 | 39 | 18 |
2.000 | 9 | 0 | 53 | 24 |
2.500 | 12 | 1 | 66 | 30 |
Gleiches gilt auch für die Schwächen. Beiden ist gemein, dass sie nicht sonderlich gut im offensiven Eins-gegen-eins sowie nicht übermäßig schnell sind. Zudem haben beide Schwächen in der Verteidigung, was die Effektivität im Gegenpressing und bei der Defensivarbeit einschränkt. Dabei war das Gegenpressing in Köln unter Baumgart eines der Kernmerkmale.
Der HSV hingegen setzte in den vergangenen Jahren insbesondere unter Walter viel auf Ballbesitz und starkes Passspiel. Das Ziel: Spiel und Tempo zu kontrollieren und den Gegner durch präzises Kurzpassspiel und gezielte Vorstöße zu zermürben. Dafür ist Glatzel, der gegenüber Selke über einen deutlich besseren ersten Kontakt sowie ein stärkeres Passspiel verfügt, den Daten zufolge der deutlich bessere Stürmer.
Das spricht für gemeinsame Einsätze
Sollten die Hamburger diese Spielweise modifizieren und beispielsweise vermehrt auf Flanken setzen, würde die Doppelspitze Glatzel-Selke eine größere körperliche Wucht haben als ein Stürmer alleine. Dies könnte gerade gegen tiefstehende Gegner, die kompakt verteidigen, nützlich sein - etwas, woran der HSV in allen bisher misslungenen Aufstiegsversuchen immer wieder regelmäßig scheiterte.
So könnte das HSV-Team mit Selke und Glatzel aussehen
Raab - Muheim, Schonlau, Hadzikadunic, Heyer - Meffert, Dompé, Königsdörffer, Pherai - Glatzel, Selke (laut GSN-Berechnung).
Auch bei Standardsituationen könnten die "Rothosen" mit den beiden Angreifern eine stärkere Dominanz entwickeln. Zudem ist eine situative Nutzung beider Zielspieler beispielsweise bei einem Rückstand denkbar.
Kuntz betont Selkes Mentalität
Der neue Sportchef Stefan Kuntz - wie Trainer Baumgart ehemaliger Stürmer - vertraut dem Coach, dass er einen Weg findet, die beiden Angreifer gemeinsam einzusetzen - und setzt Hoffnung in die Tatsache, dass Baumgart und Selke beim 1. FC Köln bereits zusammengearbeitet haben. Zudem hob er Selkes Mentalität hervor, mit der er für die Mannschaft "eine große Bereicherung sein" werde.
Und ganz sicher spielte bei der Verpflichtung noch ein weiterer Gedanke eine Rolle: eine mögliche Verletzung Glatzels. Nach weitgehend verletzungsfreien ersten zweieinhalb Jahren machten die Hamburger in der Rückrunde der vergangenen Saison die unliebsame Erfahrung, was es bedeutet, wenn ihr Top-Stürmer ausfällt. Andras Nemeth war, allem erkennbaren Bemühens zum Trotz, kein auch nur annähernd gleichwertiger Ersatz.
Im Trainingslager erstmals mit beiden Stürmern?
Der Haken an dieser Rechnung könnte sein, dass Selke in seiner Karriere immer wieder verletzungsbedingt ausfiel - und sich aktuell nach einem im April erlittenen Mittelfußbruch zurückkämpft. Es ist einer der Kritikpunkte derjenigen, die der Verpflichtung skeptisch gegenüberstehen.
Am Dienstag geht es ins zweite Trainingslager nach Österreich. Dann könnten Glatzel und Selke erstmals gemeinsam trainieren und spielen. Und vielleicht Argumente für die Befürworter sammeln. So oder so wird der HSV auch weiter einer der am leidenschaftlichsten diskutierten Clubs der Republik sein.