Mein Vater, der HSV und die Nazis - Die Geschichte von Torkel und Walter Wächter
Walter Wächter spielte Fußball beim Hamburger SV, kam als Jude ins KZ und flüchtete nach Schweden. Sein Sohn Torkel fand im Nachlass Bilder und Beweise eines verborgenen Lebens. Er lernte Deutsch und entschlüsselte auf einer emotionalen Reise in die Vergangenheit die Identität seines Vaters.
Die Zeugen einer schrecklichen Vergangenheit schlummerten lange unbeachtet in einem Karton. Als der Schwede Torkel Wächter diese unscheinbare Kiste nach dem Tod seines Vaters entdeckte und öffnete, tat sich ein neues, ihm bis dahin gänzlich unbekanntes Leben seines in Deutschland geborenen Vaters auf.
Er stöberte in den Unterlagen, Fotos und Briefen, ordnete alles akribisch. Und beschloss schließlich, Deutsch zu lernen, um den Nachlass seines Vaters in allen Facetten verstehen zu können.
Torkel Wächter: Den Vater neu entdecken
Schnell wurde aus anfänglicher Neugier ein bisweilen obsessives Verlangen danach, das Ungesagte zu begreifen. Die eigene Realität und vertrauten Vorstellungen zu justieren - kurzum: Den Vater und sein Leben neu zu entdecken. "Er wurde in Hamburg geboren, spielte in der ersten Jugendmannschaft des HSV. Er war Antifaschist und Jude und musste Deutschland verlassen", erzählt Torkel Wächter. "Dann hat er den Rest seines Lebens in Schweden verbracht."
Walter Wächter und eine verratene Liebe
Doch was den Vater unauslöschlich mit Deutschland und dem HSV verband, welch schmerzliche Erinnerungen er in sich trug und stets für sich behielt, sollte er erst durch die entdeckten Unterlagen und seine Recherchen in der Hansestadt ergründen. "Ich bin mit einem gewissen Deutschland-Hass aufgewachsen", so Torkel Wächter in der NDR Sportclub Story. "Aber heute denke ich mir, dass es um eine Liebe ging, eine verratene Liebe."
Seinen Vater hat er auf dieser Reise in die Vergangenheit quasi noch einmal kennengelernt - anders als er ihn in vielerlei Hinsicht immer gesehen und empfunden hatte.
Spurensuche öffnet die Augen
"Für mich war er ein Intellektueller", sagt Torkel Wächter. Niemals habe er es für möglich gehalten, dass sein Vater ein respektabler Fußballer mit Ambitionen gewesen sein könnte: "Er hatte einen rundlichen, einen ordentlichen Bauch, deshalb konnte ich ihn nicht als Sportler sehen." In diesem Glauben lebte er Jahrzehnte - bis zu dem Tag, als er in Walter Wächters Nachlass entdeckte, dass sein Vater "nicht weiter Sport treiben konnte", weil ihm im berüchtigten Konzentrationslager Kola-Fu in Fuhlsbüttel der Rücken nachhaltig geschädigt worden war.
Glückliche Zeit beim HSV
Der am 26. Mai 1913 geborene Walter Wächter wuchs in Hamburg auf. In einer gutbürgerlichen Beamtenfamilie, die sich im Stadtteil Eimsbüttel eingerichtet hatte und der es an nichts fehlte. Der Filius spielte Fußball beim HSV, einem der damals erfolgreichsten Vereine des Landes, der am Rothenbaum residierte.
Es waren die 1920er-Jahre, eine glückliche Zeit für den Youngster - wie Aufzeichnungen aus besagtem Karton dokumentieren: "Der Höhepunkt meiner Fußballkarriere war, wenn wir das Vor-Match zum norddeutschen Derby zwischen dem HSV und Holstein Kiel spielen durften. Ich war ungeheuer stolz, weil wir für ein Publikum aus mehr als 20.000 Personen spielen durften."
Harder und Halvorsen - Aus HSV-Stars werden Todfeinde
Es waren die Jahre, in denen Otto "Tull" Harder und der Norweger Asbjørn Halvorsen die Superstars beim HSV und in ihren jeweiligen Nationalmannschaften waren. Fast zehn Jahre bildeten sie die erfolgreiche Mittelachse im HSV und führten die Hamburger zweimal zur deutschen Meisterschaft. Beste Freunde zu dieser Zeit, doch das sollte sich dramatisch ändern.
Im Zweiten Weltkrieg wurden sie zu Todfeinden, als der linientreue Nationalsozialist Harder SS-Aufseher im KZ-Neuengamme wurde - und Halvorsen dort als Häftling um sein Leben kämpfte. Persönlich begegnet sind sie sich dort aber wohl nicht.
Düsteres Kapitel des HSV
Nach Kriegsende kam "Tull" Harder in Haft, wurde nach sechs Jahren aber vorzeitig entlassen. Die Rückkehr zum HSV wurde der Überlieferung folgend "vom Verein und seinen Anhängern frenetisch gefeiert". Ein düsteres Kapitel des Clubs, der sich dieser Verantwortung inzwischen aber stellt.
"Dass Harder heute nicht mehr als der große Fußballstar, sondern eben in erster Linie als ein Kriegsverbrecher erinnert wird, ist tatsächlich erst ein Ergebnis der Recherchen seit Anfang dieses Jahrtausends", sagt der Chef des HSV-Museums, Niko Stövhase: "Das muss man leider sagen."
Juden-Hass: Wächter verlässt den HSV
Schon früh hatte der gutbürgerliche HSV, in dem sich Walter Wächter eigentlich wohlgefühlt hatte, eine Kehrtwende hin zum Wohlwollen der Nazis vollzogen. "Der HSV hat sich erst einmal anbiedernd bei den neuen Machthabern angedient", so Stövhase, der sich um die Aufarbeitung dieser "braunen Zeit unter dem Hakenkreuz" seit Jahren müht. "Der Club hat eigenes Verhalten in den 1920er-Jahren umgedeutet in ein vorauseilendes Umsetzen des Führerprinzips der NSDAP."
Zunächst wurden jüdische Mitglieder nicht ausgeschlossen, doch die Stimmung im Verein kippte zusehends. "Als meinem Vater deutlich wurde, dass es sehr konservative und antisemitische Strömungen gab, wurde ihm klar, dass das nicht mehr der richtige Verein für ihn war", sagt Torkel Wächter. Der letzte Impuls war die antisemitische Rede eines hohen Vereins-Funktionärs. "Wir versuchen noch immer herauszufinden, wer sie gehalten hat", sagt Stövhase.
Widerstand und neue sportliche Heimat
Für Walter Wächter war eine Grenze überschritten. Er sah, wie sich überall kritisch denkende Menschen im Widerstand organisierten, um dem aufkommenden Nationalsozialismus entgegenzutreten. Dem 19-jährigen schien seine jüdische Identität dabei weniger wichtig zu sein als sein politisches Engagement in der Sozialistischen Arbeiterpartei. Folgerichtig schloss er sich nach dem Ausstieg beim HSV dem Arbeitersport-Verein Fichte Eimsbüttel an.
“Als die Nazis auch die Arbeitersport-Vereine verboten haben, hat er bei Bar Kochba gespielt", erzählt Torkel Wächter. Am Anfang habe der jüdische Sportverein noch gegen nichtjüdische Clubs gespielt. "Was nicht immer nett und reibungslos verlief, weil ja nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch im Sport Juden ausgegrenzt wurden."
Torkel Wächter: "Viel besser, je mehr man weiß"
Die Recherche in der Hansestadt wird für Torkel Wächter stetig intensiver - und wie es scheint, taucht er tiefer und tiefer in das Leben seines Vaters und das seiner Vorfahren ein. "Es ist viel besser, je mehr man weiß, was geschehen ist."
Über das Schicksal seiner Großeltern Minna und Gustav etwa, die nach Riga deportiert und im KZ ermordet wurden, bevor er sie hätte kennenlernen können. Im Angesicht ihres Hauses am Hamburger Scheideweg schaudert es ihn stumm.
"Ich fühle mich meinen Großeltern sehr nahe, weil ich die Briefe gelesen habe, die sie meinem Vater ins KZ und Zuchthaus geschrieben haben." 1935 war sein Vater wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" verhaftet worden. Dank der Briefe habe er die Jahre überlebt, glaubt Torkel Wächter: "Sonst hätte er das nicht überstanden. Das habe ich durch die Briefe erfahren - was sehr schön ist."
In den Bürgersteig eingelassene Stolpersteine erinnern an die Opfer der Nazi-Zeit. Der NDR Film zeigt, wie Torkel Wächter einen sorgsam putzt, das Foto von seinem Vater mit dessen Eltern wohl noch immer vor seinem geistigen Auge.
Kola-Fu: Vor dem "Tor zur Hölle"
Ein noch schwererer Gang sollte folgen, als die Reise in die Vergangenheit Torkel Wächter nach Fuhlsbüttel führte - einen leid- und todbringenden Ort, über den der Vater nie auch nur ein Wort verloren hatte.
Nichts, gar nichts habe er in all den Jahren in Schweden von Kola-Fu, dem KZ in Fuhlsbüttel erzählt. "Das kann ich auch gut verstehen", sagt der 63-Jährige. "Wenn man Kinder hat, möchte man, dass sie spüren, dass die Welt ein guter Platz ist. Ich bin wie in Bullerbü aufgewachsen."
Nun aber steht er vor dem "Tor zur Hölle", schließt die Augen für einen Moment, liest die Mahnung gegen das Vergessen auf den Gedenktafeln und es scheint, als fühle er sich seinem Vater näher, als er es je gespürt hat.
Er liest in den Briefen, die sich der Vater jede Woche mit seinen Eltern geschrieben hat. "Ich bin augenblicklich in Einzelhaft, und das ist sehr schwer", heißt es in einem von ihnen. Und: "Ihr könnt euch nicht vorstellen, was das heißt, Tag für Tag allein zu sein, mit bohrenden Gedanken und immer wartend auf Änderung. Die Stunden werden zur Ewigkeit."
Gejagt von den Schergen der Gestapo
Walter Wächter wird nach drei Jahren Gefangenschaft noch vor Kriegsbeginn mit der Auflage entlassen, Deutschland binnen 14 Tagen zu verlassen. "Er hat Hamburg am Geburtstag seiner Mutter verlassen und ist mit dem Zug nach Mailand gefahren", erzählt sein Sohn.
Es beginnt eine Flucht quer durch Europa. Mehrere Monate verbringt der 25-Jährige in Italien, Jugoslawien und Ungarn. Die erhoffte Ausreise nach Palästina klappt nicht. Doch es ergibt sich die Möglichkeit, nach Schweden auswandern zu dürfen.
Ein lebensgefährliches Vorhaben, denn um sein Ziel zu erreichen, muss er durch Deutschland reisen, was ihm strikt verboten war. Quälende Unsicherheit begleitete ihn bei Tag und vor allem bei Nacht, weil die Gestapo gerade dann besonders gefährlich war.
"Er musste auf sein Visum und die Arbeitserlaubnis für Schweden warten", so Torkel Wächter. Um nicht erwischt zu werden, pendelte er im Nachtzug zwischen Berlin und Hamburg - und entging so dem Zugriff der Gestapo. Nicht ahnend, dass er in diesen Tagen seine Eltern zum letzten Mal sehen sollte.
Leben in Schweden - Ehre in Hamburg
In Schweden glücklich gelandet, baute sich Walter Wächter ein neues Leben auf. Er studierte Psychologie, wird ein gefragter Autor, Journalist und Psychologe, der auch in Talkshows des schwedischen Fernsehens gern gesehener Gast war.
Sein altes Leben streifte Wächter schweigend ab. Und änderte seinen Vornamen: aus Walter wurde Michael. "Ich habe ihn nie Walter genannt, niemals", sagt Torkel Wächter. "Er mochte den Namen nicht. Heute denke ich, der Name war mit seinem Leben in Hamburg verknüpft - und es schmerzte ihn, daran erinnert zu werden."
In Hamburg erinnert sich heute nicht nur der HSV an Michael "Walter" Wächter, sondern auch der FC Alsterbrüder in Hamburg-Eimsbüttel. Nur wenige hundert Meter von seinem Geburtshaus entfernt befindet sich seit 2018 der Walter-Wächter-Platz als Denk- und zugleich wohl auch Mahnmal "für einen Mann, der immer für seine Überzeugungen eingetreten ist". Eine große posthume Ehre, die "mein Vater sehr geschätzt hätte, weil der Club so ist, wie er war", sagt Torkel Wächter.
Schweres Erbe - erstrebtes Beispiel
Der unscheinbare Karton mit dem Nachlass seines Vaters führte Torkel Wächter gewiss auf eine schmerzliche Reise. Aber bei all dem Leid, das er dabei erfuhr, hat er jenen besonderen Menschen entdeckt, der sein Vater war - und noch so viel mehr, als er jemals geahnt hat. Ein schweres Erbe sicherlich, aber für den 63-Jährige ist die Geschichte auch Ansporn, seinen vier Kindern ein gutes Beispiel zu sein - so wie es sein Vater für ihn immer gewesen ist.