Fußball-EM: Hamburg feiert ein Sommermärchen - mit kleinen Schatten
Für Hamburg ist die Fußball-EM nach dem Viertelfinale weitgehend beendet: Sportlich waren die fünf Partien attraktiver als erwartet, die vielen Fans feierten friedlich. Trotz des positiven Gesamteindrucks hatten sich manche aber auch mehr von der Europameisterschaft in der Hansestadt erhofft.
Noch bevor in Hamburg zum ersten Mal der Ball rollte, rollte der "Oranje"-Zug durch die Straßen der Hansestadt. Komplett in orange gekleidet zogen Anhänger der niederländischen Nationalmannschaft vor ihrem ersten Gruppenspiel gegen Polen zu Tausenden durch Hamburg. Mit Flaggen, Rauchtöpfen und Musik.
"Wir haben eine positive Stimmung in der Stadt, wie wir sie seit Corona, glaube ich, nicht mehr gehabt haben." Sportstaatsrat Christoph Holstein (SPD)
Zu elektronischen Bässen und Melodien schoben sie sich singend, springend und tanzend auf ihrem Fanwalk durch die Straßen. Von links nach rechts, von rechts nach links, zurück und vor. Ein Zug der Freude, eine Oranje-Interpretation des Schlagermoves. Schon vor dem ersten Anpfiff im Volksparkstadion wurden in Hamburg Bilder eines friedlichen Fußball-Festes geprägt.
"Entspannte, ganz friedliche Atmosphäre auf den Straßen"
Es sind Eindrücke, die auch Sportstaatsrat Christoph Holstein im Kopf hat: "Wir haben eine positive Stimmung in der Stadt, wie wir sie seit Corona, glaube ich, nicht mehr gehabt haben", sagte er dem NDR. Aus der Stadt seien Bilder in die Welt gegangen "von den feierenden Holländern, von einer entspannten, ganz friedlichen Atmosphäre draußen auf den Straßen."
Gedämpfte Vorfreude ...
Abzusehen war das nach der Auslosung und dem Feststehen der Partien im Volksparkstadion nicht unbedingt. Mit den Niederlanden, der Türkei, Kroatien, Albanien, Tschechien, Georgien und Polen waren - so der Eindruck - keine richtigen sportlichen Großkaliber dabei. Kein England, kein Spanien, kein Italien. Eher die B- bis D-Prominenz des europäischen Fußballs.
Und die Fans? Die türkischen und kroatischen Communitys in Deutschland und auch in der Hansestadt sind groß - und die niederländischen Anhänger reise- und feierfreudig. Und doch war angesichts von Partien wie Tschechien gegen Georgien die Euphorie gedämpft. Es kam anders - und nahm nicht nur auf den Straßen, in den Kneipen und dem Fanfest, sondern vor allem auch auf dem Rasen der Hamburger Arena einen gänzlich anderen Lauf, als viele erwartet hatten.
... weicht der Euphorie über begeisternde Spiele
Weil Polen die Niederlande im ersten Spiel in Hamburg richtig forderte und der Favorit sich erst mit einem späten Treffer durchsetzen konnte; die Georgier - eine der positiven Überraschungen des Turniers - sich mit Tschechien eine beherzte Partie lieferten; Albaner und Kroaten ein atemloses 2:2 auf das Feld zauberten; und weil es im letzten Spiel in Gruppe F zwischen der Türkei und den Tschechen bis in die Nachspielzeit im direkten Duell ums Weiterkommen ging.
Traumkombinationen, Tempo, späte Tore, all das bekam das Publikum im Volkspark über die vier Gruppenspiele hinweg zu sehen. In drei der Begegnungen fielen Treffer in den letzten zehn Minuten oder in der Nachspielzeit. Wout Weghorsts später Siegtreffer für die Niederlande gegen Polen sorgte für eine mindestens ebenso emotionale Eruption auf den Rängen wie der ehemalige HSV-Profi Klaus Gjasula mit seinem späten 2:2 für Albanien oder Cenk Tosuns Treffer zum 2:1 für die Türkei gegen Tschechien.
Ronaldos emotionaler Abgang im Volksparkstadion
Getoppt wurde die Dramatik nur noch im letzten EM-Spiel im Volksparkstadion, als Frankreich Portugal erst im Elfmeterschießen besiegte. Das Viertelfinale am Freitag brachte der Hansestadt auch noch die erhofften "Schwergewichte" - und den Abgang des langjährigen Königs des europäischen Fußballs, Cristiano Ronaldo. Der 39-jährige Portugiese hatte angekündigt, dass diese seine letzte Europameisterschaft sei.
Die bislang letzten Bilder zeigten CR7, wie er seinen 41 Jahre alten Teamkollegen Pepe auf dem Rasen tröstete - und dann in den Katakomben des Volksparkstadions verschwand.
"Die wichtigste Botschaft: Zehntausende Fans haben über die Tage bewiesen, wie man friedlich feiern kann." Sprecher der Polizei Hamburg
So positiv wie das sportliche Fazit ausfällt, lautete auch das vorläufige Urteil der Polizei Hamburg. Die hatte bereits vor der letzten Partie in der Hansestadt eine positive Bilanz gezogen. "Die wichtigste Botschaft: Zehntausende Fans haben über die Tage bewiesen, wie man friedlich feiern kann", sagte ein Polizeisprecher.
Weder bei den Spielen im Volksparkstadion noch auf dem Fanfest am Heiligengeistfeld oder bei den Deutschland-Spielen - 50.000 Gäste beim Aus gegen Spanien, zuvor im Schnitt rund 33.000 Zuschauende - sei es zu nennenswerten Störungen oder erheblichen polizeilichen Einsätzen gekommen, sagte der Hamburger Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Thomas Jungfer.
Auch Innen- und Sportsenator Andy Grote zog eine positive Bilanz. "Wer einmal auf der Fanzone war, die Bilder feiernder Menschen gesehen hat, die sich in all ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit in den Armen lagen und das deutsche Team nach vorne gepeitscht haben, der spürt, wie der Fußball diese Stadt erfasst hat und uns verbindet", sagte der SPD-Politiker in einer Mitteilung seiner Behörde. Bis zum Sonntag wurden laut Innenbehörde mehr als 500.000 Besucher in der Fanzone auf dem Heiligengeistfeld registriert.
Horst Niens, der Hamburger Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), resümierte, dass es auch mit Autokorsos - wie etwa nach dem 2:1 der Türkei im Achtelfinale gegen Österreich - keine Probleme gegeben habe. Und während es in anderen Städten während der EM zu einer Reihe nationalistischer Auswüchse kam, sei dies in der Hansestadt nicht der Fall gewesen. "Es ist eine Volksfeststimmung", bilanzierte er.
Kosten für die Stadt Hamburg noch unklar
Was die Ausrichtung der fünf Partien die Hansestadt kostet, ist noch unklar. Sportstaatsrat Holstein sagte, die Gesamtkosten ließen sich erst nach Ende genau berechnen. Nach Recherchen des NDR sind es geschätzt 30 Millionen Euro - unter anderem für Sicherheitskräfte, aber auch für Sanierungsmaßnahmen im Vorfeld. Die Gewinne des Fan-Festes aus Getränken und Speisen zum Beispiel stehen der Stadt zu. Die Gewinne aus Tickets, Werbeeinnahmen und Sponsoring aber gehen an den Fußballverband UEFA, und zwar unversteuert.
Das sorgt bei der Opposition im Senat für Unmut: "Die Stadt Hamburg hat sich - wie auch die anderen Ausrichter-Städte - diese Verträge von der UEFA diktieren lassen", sagte Heike Sudmann von der Linken. Sie könne nicht verstehen, dass der Senat "solche Verträge unterschreibt. Da hätte man sagen müssen: 'Nein, das machen wir nicht mit.'"
Dehoga-Vizepräsidentin: "Haben größere Hoffnungen in die EM gesetzt"
Mehr Geld in die Stadt gespült hat die Europameisterschaft nach Einschätzungen des Hotel- und Gaststättenverbandes Dehoga nicht. Laut Vizepräsidentin Kathrin Wirth-Ueberschär liegt der Juni "hinter den Erwartungen in Hamburg. Wir haben größere Hoffnungen in die EM gesetzt." Doch "König Fußball hat auch einiges verdrängt" - etwa im Bereich des Kulturtourismus, weil viele sich Wirth-Ueberschär zufolge gesagt hätten: "Ich komme lieber, wenn die Fußballfans alle weg sind."
Mehreinnahmen für Hotels und Gastronomen? Fehlanzeige, obwohl dem Sport-Informationsdienst zufolge alle Partien in der Arena ausverkauft gewesen waren (während der Gruppenphase soll die Auslastung der Stadien bei 98 Prozent gelegen haben). Viele Fans aus den Nachbarländern Niederlande, Tschechien und Polen, aber auch aus Frankreich kamen aufgrund der geografischen Nähe wohl nur als Tagestouristen in die Hansestadt.
EM der Wohnungslosen als Gegenpunkt zum Glitzer und Glamour
Dieser Eindruck dürfte sich auch nach dem Viertelfinale nicht grundlegend geändert haben. Dafür zeichnete sich die EM in Hamburg auch dadurch aus, dass sie noch ein anderes Gesicht jenseits der großen Kommerz- und Konsum-Maschinerie hatte - durch die "Homeless Euro".
Mit der Europameisterschaft der Wohnungslosen, an der Spielerinnen und Spieler aus acht Nationen teilnahmen, wurde in der Fanzone auf dem Heiligengeistfeld ein Gegenpunkt zum Glitzer und Glamour des eigentlichen Turniers gesetzt - und Menschen in den Mittelpunkt gestellt, die sonst häufig am Rand der Gesellschaften stehen.
Auch deshalb sagte Sportstaatsrat Holstein: "Wir haben es geschafft, Fußball zu nutzen, um unterschiedliche Menschen zusammenzubringen. In einer Zeit, in der viele von Vereinzelung reden."