Fanforscher Gabler: "Punktabzug als Druckmittel eine Verzweiflungstat"
Beim Zweitliga-Nordduell zwischen dem FC St. Pauli und Hansa Rostock spielten sich am vergangenen Sonntag Szenen ab, die beide Clubs scharf verurteilen. Pyrotechnik, Randale, Gewalt, Verletzte - wie kommt es dazu und wie könnten Lösungen aussehen? Fanforscher Jonas Gabler im NDR Interview.
Herr Gabler, wie haben Sie die Ereignisse in Hamburg wahrgenommen?
Jonas Gabler: Es sicherlich nicht alltäglich, was wir da beobachten konnten. Vor allem, was man auch im Nachhinein gehört hat – demolierte Toiletten, deren Keramikteile als Wurfgeschosse verwendet wurden. Es ist aber auch keine alltägliche Begegnung. St. Pauli und Hansa Rostock haben eine von vielen Rivalitäten, die es im deutschen Fußball gibt. Und es ist sicherlich eine der brisantesten Rivalitäten. Hinzu kommt, dass es nach vielen Jahren wieder das erste Zusammentreffen der Fans war. Auch in dieser Hinsicht war es ein besonderes Spiel.
Die Rostocker Fans gelten als "Problemfans". Sind sie vielleicht sogar die schwierigsten im deutschen Fußball?
Gabler: Sicherlich gehören die Fans von Hansa Rostock zu denen, wo man sich bei Risikobegegnungen Sorgen machen muss. Es ist aber kein spezifisches Problem der Fanszene von Hansa Rostock. Das gibt es bei anderen Vereinen auch.
Ich mache die Beobachtung, dass es immer Phasen gibt, in der einer Fanszene so ein "Label" sehr stark angeheftet wird. Das war mal der 1. FC Köln, dann ist es Eintracht Frankfurt, der 1. FC Nürnberg oder Dynamo Dresden. Aktuell gehört eben Rostock zu diesen Vereinen, bei denen Fans Probleme machen. Die bekommen dann so ein "Label", das sie sich durch ihre "Taten" gewissermaßen auch verdienen.
Welche "Fans" genau sind das, die für solche Bilder sorgen?
Gabler: Wir sprechen über die Ultra- und Hooliganszene. Wir sehen, dass sich diese Szenen in den letzten zehn, zwölf Jahren mehr und mehr vermischt haben. Hansa Rostock ist dafür ein gutes Beispiel. Es sind vielleicht eher support-orientierte Ultras, die auch Vereinspolitik machen wollen. Und dann eben eher gewaltaffine Ultras, wie ich sie nenne, die unter einem gemeinsamen Dach agieren, bei denen offensichtlich die Regulierung auch nicht so gut funktioniert.
Sie beobachten seit Jahren verschiedene Fanszenen - auch im Ausland. Ist die Gewaltbereitschaft in Deutschland gestiegen?
Gabler: Ich beobachte nicht pauschal eine Zunahme an Aggressivität oder Gewalt. Ich beobachte eher, dass es Wellen-Bewegungen gibt. Dass also eine bestimmte Fanszene in einer bestimmten Zeit mehr in Erscheinung tritt. Und das ist eher lokal zu beobachten.
Die Vermischung der Hooligan- und Ultraszenen kann als eine Zunahme der Gewalt wahrgenommen werden. Besonders wenn solche Vorfälle im Kontext von Fußball mehr werden. Das Geschehen hat sich dadurch von Drittorten wie vor dem Stadion nun ins Stadion verlagert. Trotzdem bewegen wir uns immer noch auf einem sehr niedrigen Niveau. Das sind nur einige wenige Spiele.
Hat die Corona-Pandemie einen Einfluss auf die Gewaltbereitschaft?
Gabler: Seitdem es wieder Spiele ohne Corona-Beschränkungen gibt, hat man das Gefühl, es gibt eine Art Nachholbedarf. Dass die Fanszenen - nicht nur in Rostock - mehr über die Stränge schlagen. Wir sehen, dass mehr Pyrotechnik abgebrannt wird und der Gebrauch hemmungsloser abläuft.
Ich würde aber nicht unbedingt sagen, dass daraus insgesamt eine Radikalisierungstendenz abzulesen ist. Das kann auch eine Momentaufnahme sein. Fast zwei Jahre lang wurde der Spielbetrieb mit viel weniger Publikum organisiert, es wurde vielleicht auch Personal abgebaut. Die Abläufe sind nicht mehr so selbstverständlich. Das sind alles Herausforderungen, mit denen der Fußball konfrontiert ist.
Reichen Geldstrafen für die Vereine als Mittel der Sanktion noch aus?
Gabler: Die Geldstrafen sind in den vergangenen Jahren immer weiter angestiegen. Gleichzeitig beobachten wir keine Veränderungen in den Verhaltensweisen. Ich habe nicht den Eindruck, dass das wirklich zielführend ist.
Ich habe allerdings auch nicht die Patentlösung. Ich glaube aber, dass die Hauptverantwortung nach wie vor bei den Vereinen liegt, wie auch jetzt in diesem aktuellen Fall. Die Verantwortung liegt bei Hansa Rostock, diese Vorfälle auszuwerten, in den Austausch zu gehen und zu klären, wie es dazu kommen konnte.
St.-Pauli-Präsident Oke Göttlich hat Punktabzüge ins Gespräch gebracht. Was halten Sie von dieser Idee?
Gabler: Das wurde auch in der Vergangenheit schon diskutiert. Es gab den Fall, das Dynamo Dresden vom DFB aus dem Pokalwettbewerb ausgeschlossen wurde. Aus meiner Sicht führt das zu einer Verlagerung des Konflikts. Ich vermute, dass die Folge eher wäre, dass sich dann das "Feindbild DFB" bei den Fans von Hansa Rostock verstärken würde. So wie es bei Dynamo Dresden war.
Ich vertraue eigentlich darauf, dass die Vereine die Expertise haben, adäquat zu reagieren. Ich glaube, das Druckmittel des Punktabzugs ist eine Verzweiflungstat. Ich rechne mit keiner positiven Wirkung.
Wären personalisierte Tickets wie beispielsweise in Italien eine Lösung?
Gabler: Bei St. Pauli und dem FC Hansa hätte man beispielsweise die persönlichen Daten von etwa 1.500 Fans. Damit habe ich aber immer noch nicht die Person, die das Bad, die Toilette zerdeppert und das Keramikteil geschmissen hat. Ich sehe nicht den positiven Effekt.
Ich sehe allerdings einen sehr deutlichen Effekt - und zwar den der Abschreckung für ganz normale Leute, die zum Fußball fahren wollen. Die sich vielleicht spontan entscheiden, mit ihrer Familie hinwollen. Mit personalisierten Tickets suggeriere ich - das hier ist gefährlich.
In Italien sind die Zuschauerzahlen deutlich zurückgegangen. Die Leute, die an Gewalt interessiert sind, sind den Stadien aber nicht ferngeblieben. Mir konnte noch niemand schlüssig erklären, inwiefern ein personalisiertes Ticket eine Straftat verhindert.
Welche Möglichkeiten haben Verein oder Verbände denn, diese Fans zu bändigen?
Gabler: Wer den besten Zugriff auf das Verhalten von Fans hat, sind die Fans selber. Die Ansage der Polizei funktioniert nicht und auch nicht die des Stadionsprechers. Der Appell der Verbände und auch der eigenen Mannschaft funktioniert nicht unbedingt. Aber was sehr gut funktioniert ist, wenn der Nebenmann oder die Nebenfrau sagt: 'Was machst du da für einen Scheiß? Hört auf damit.' Diese Selbstregulierung sehen wir tatsächlich bei Fans. Der 1. FC Köln, der Anfang der 2010er-Jahre medial extrem präsent war, ist ein Beispiel dafür.
Glauben Sie, dass wir solche Szenen wie bei St. Pauli gegen Hansa Rostock schon bald wieder sehen?
Gabler: Zum Glück steht nicht gleich noch mal ein Spiel von St. Pauli gegen Hansa Rostock an. Es gibt in der Zweiten Liga viele potenziell brisante Duelle und was da passiert, ist aber eben nicht alltäglich. Ich gehe nicht davon aus, dass sich das so schnell wiederholt.
Das Interview führte Tullio Puoti