St. Pauli vor wegweisender Rückrunde - Aufstieg kein Selbstgänger
Der Platz war gleich, das Hotel auch und ebenso das Trainerteam. Und doch sind die Vorzeichen für die restliche Saison komplett unterschiedlich, wenn man die beiden Winter-Trainingslager des Fußball-Zweitligisten FC St. Pauli im spanischen Benidorm 2023 und 2024 vergleicht.
Vor einem Jahr hatte der Club gerade Timo Schultz entlassen und den damals 29-jährigen Fabian Hürzeler zum Cheftrainer gemacht. Der legte in Benidorm den Grundstein für eine furiose Rückrunde, in der St. Pauli vom Abstiegs- zum Aufstiegskandidaten mutierte.
Ein Jahr später ist die anfängliche Skepsis mancher Fans gegenüber dem unbeschriebenen Blatt Hürzeler verflogen und Sportchef Andreas Bornemann kämpft darum, den Vertrag mit einem der begehrtesten Shooting Stars auf dem deutschen Trainermarkt zu verlängern. Spoiler: Das ist eines der wenigen Vorhaben, die in Benidorm nicht geklappt haben.
St. Pauli ist als ungeschlagener Tabellenzweiter auf einem direkten Aufstiegsplatz in die Winterpause gegangen. Und hatte doch hinten raus das Gefühl, etwas liegen gelassen zu haben. Gleich drei Unentschieden in Folge, bei denen die Mannschaft jeweils das bessere Team war und somit sechs Punkten hinterhertrauert. Geht dem Team die Luft aus?
Detailversessene Arbeit an der Abwehr
Daher nahm Hürzeler ein paar große Themen mit nach Spanien. Erstens: Die defensive Stabilität zu verbessern. Das klingt erst mal erstaunlich, hat seine Mannschaft mit nur 15 Gegentoren doch mit Abstand die beste Abwehr der zweiten Liga. Das Kalkül dahinter ist jedoch: Wenn es mal wieder nicht klappt, ein zweites, drittes oder viertes Tor nachzulegen, muss auch mal ein einziges zum Sieg reichen. Daran hat die Mannschaft teilweise detailversessen gearbeitet.
Zweites Thema: Das australische Loch stopfen. St. Paulis Kapitän Jackson Irvine fehlt mehrere Wochen. Er nimmt mit der australischen Nationalmannschaft an der Asien-Meisterschaft in Katar teil. Und als ob das nicht reichen würde: Der Mann, der Irvine bei Ausfällen bislang vertreten hatte, ist ebenfalls dort. Connor Metcalfe ist nämlich auch australischer Nationalspieler. Nun muss Hürzeler also auf der wichtigen Defensiv-Zentrale umbauen.
Smith oder Kemlein - wer stopft das australische Loch?
Möglich wäre es, Eric Smith aus der Innenverteidigung eine Position nach vorne zu ziehen. Das hat er schon gespielt und kann das auch. Das Problem: Der Schwede ist eigentlich in der letzten Reihe viel zu wertvoll - und sieht sich selbst dort inzwischen auch eher. Und so ist St. Pauli einen Weg gegangen, der erst mal überrascht. Der Verein hat den erst 19 Jahre alten Aljoscha Kemlein von Union Berlin für ein halbes Jahr ausgeliehen.
Ambitioniert, denn Kemlein hat bislang erst zwei Kurz-Einsätze in der Bundesliga und einen in der Champions League (eingewechselt gegen Real Madrid) bestritten. Zudem hat er neben fehlender Spielpraxis nun extrem wenig Anlaufzeit, um das anspruchsvolle System von St. Pauli zu verinnerlichen und auf einer Schlüsselposition zu bespielen. Stürmer Johannes Eggestein lobte nach den ersten Eindrücken in Benidorm aber das gute Spielverständnis und die schnelle Auffassungsgabe des Youngsters. Wenn der Plan aufgeht, könnte Sportchef Andreas Bornemann da ein echter Coup gelungen sein.
Die Frage nach den zeitweise fehlenden "Leadership-Skills" durch die Abstinenz von Irvine dürften zu vernachlässigen sein. Mit Akteuren wie Nikola Vasijl, Hauke Wahl, Karol Mets, Marcel Hartel, Smith oder Eggestein hat das Team immer noch mehr als genügend Spieler mit Führungspersönlichkeit auf dem Feld und in der Kabine.
U17-Weltmeister Eric da Silva Moreira überzeugt
Zum 30-köpfigen Spieleraufgebot gehörten in Benidorm gleich sieben Spieler, auf die der Begriff "Nachwuchs" zutrifft. Hürzeler wollte sie dauerhaft sehen, testen, wie sie auf die tägliche hohe Belastung reagieren und einschätzen, wer möglicherweise auf absehbare Zeit eine Alternative für den Profibereich sein könnte.
Überraschend gut hat sich aus der Gruppe Eric da Silva Moreira präsentiert. Der erst 17-Jährige, der auf der rechten Außenbahn defensiv und offensiv unterwegs ist, ist gerade mit Deutschland U17-Weltmeister geworden. Querelen, die es um das Talent im Sommer gegeben hat, als ein mögliches Millionen-Angebot aus der Bundesliga auf dem Tisch gelegen haben soll, sind ausgeräumt. Da Silva Moreira hat den Berater gewechselt und konzentriert sich jetzt auf St. Pauli - erst mal.
Zoller bleibt das Sorgenkind
Ein weinendes und ein lachendes Auge gibt es von den Verletzten. Gut ist, dass nur zwei Profis nicht trainieren konnten: Scott Banks, der nach seinem Kreuzbandriss langsam aufgebaut wird plus - und das ist das weinende Auge: Simon Zoller. Der Stürmer, auf dem viele Hoffnungen lagen, als er im Sommer ans Millerntor gewechselt war, plagt sich seitdem mit wechselnden Verletzungen herum. In Benidorm arbeitete er die komplette Zeit individuell mit den Reha-Trainern. Rückkehr ungewiss.
Hürzeler zeigt sich zufrieden
Der Trainer zeigte sich insgesamt mit den zehn Tagen unter der mal mehr und mal weniger stark scheinenden Sonne Spaniens zufrieden. Er lobte das professionelle Verhalten seiner Spieler, auch in Bezug auf gewissenhafte Regeneration bei dem hohen Pensum, das er und sein Staff vorgegeben hatten. "Variationen für das Schaffen von neuen Räumen bei gleichzeitiger Beibehaltung der bewährten Grundordnung" seien erfolgreich erarbeitet worden, mit "dem Mut, auch mal Fehler zu machen und daraus zu lernen", sei er sehr zufrieden.
Hürzeler zeigte sich dankbar für seine Spieler und seine Mitarbeiter. Er wisse, dass er privilegiert sei, als "passionierter und teilweise besessener" Fußballlehrer so viel Unterstützung zu erhalten. Kleinigkeiten, die aber die gegenseitige Wertschätzung untermauern. Aber: Das alles hatte Hürzeler schon vor der abschließenden 1:3-Niederlage im Test gegen Osnabrück gesagt.
Testspielniederlage gegen Osnabrück als Dämpfer
Bis zum Testspiel hatte es so ausgesehen, als hätte St. Pauli in den Einheiten die gesteckten Ziele relativ gut erreicht. Wenn das Spiel gegen den Zweitliga-Tabellenletzten dazu da war, das mit einem Ergebnis zu untermauern, ist das in die Hose gegangen.
War St. Pauli mal wieder die bessere Mannschaft? Auf jeden Fall. Haben sie es geschafft, die Überlegenheit in Zählbares umzumünzen? Nein, schon wieder nicht. Hat die Sicherheit im Spielaufbau funktioniert? Nein, das 0:1 resultierte aus einem der riskanten Manöver im Spielaufbau über den Torwart, die in der Hinrunde fast nie bestraft wurden, jetzt aber.
Hat die Balance zwischen Angriff und Verteidigung gestimmt? Jein. Meistens ja, aber beim 0:2 reichte ein langer Ball, um hinten blank zu stehen. Und wenn der Tabellenletzte in 75 Minuten zwei Tore schießt und dazu noch einen Elfmeter vergibt, ist das aus St.-Pauli-Sicht zu wenig. Oder zu viel, je nach Sichtweise. Die zweiten 75 Minuten mit einem Tor auf jeder Seite waren geprägt von Spielern aus der zweiten Reihe und sind daher zu vernachlässigen.
Wo landet St. Pauli am Ende der Saison?
Es bleibt die schwierige Frage nach einer Prognose für die Rückrunde. Schafft St. Pauli es, die spielerische Überlegenheit aus den meisten Partien wieder verlässlich in Siege umzuwandeln und somit auch regelmäßig dreifach zu punkten? Neun Unentschieden aus 17 Hinrundenspielen sind zu viele - nur einfach zu punkten wird auf Dauer nicht für die Spitzengruppe reichen.
Wie gut kann das Team die Abwesenheit von Irvine kompensieren? Mut macht, dass die Mannschaft die Situation schon gemeistert hat. Als der Kapitän im Herbst verletzt von einer Länderspielreise zurückkam, feierte die Mannschaft ohne ihn drei Siege in Serie. Der Haken: Damals hatte Metcalfe ihn ersetzt.
Hat sich die Liga auf St. Paulis Ballbesitzfußball eingestellt und bestrafen schwächere, aber effiziente Teams die Kiezkicker so, wie es Osnabrück im Testspiel getan hat? Und am Ende ist natürlich die Frage: Welchen Druck macht die Konkurrenz im Aufstiegsrennen? Mit dem HSV ist immer zu rechnen. Schafft es das Überraschungsteam Kiel, dauerhaft oben dabei zu sein? Wird Hertha BSC wie zu erwarten noch mal mit einer Serie ins Aufstiegsrennen eingreifen können? Und welche Teams lauern noch auf Patzer der Top Drei?
St. Paulis großes Plus ist, dass die Mannschaft nicht nur im Trainingslager in Benidorm viel zu eingespielt und zu gefestigt wirkt, um dauerhaft aus der Spur zu geraten. Ein Selbstgänger wird die Mission Bundesliga aber lange nicht.