Hermann Rieger: Ein Masseur als Vereins-Ikone
Dass Rieger jemals zu solchem Ruhm an der Elbe gelangen würde, war nicht abzusehen, als er 1978 vom damaligen HSV-Manager Günter Netzer verpflichtet wurde. "Ich habe mir gedacht, ich bleibe ein Jahr und gehe dann wieder zurück in meine Berge", sagte der am 2. Oktober 1941 im oberbayerischen Mittenwald geborene und aufgewachsene Masseur. Vor seiner Anstellung beim Hamburger Bundesligisten war Rieger als Technik-Trainer beim Deutschen Skiverband (DSV) und Physiotherapeut für den FC Bayern München tätig. Seine Mutter überredete ihn schließlich, den Umzug in den hohen Norden zu wagen. "Sie sagte: Da gibts nette Leute", erklärte Rieger. Und tatsächlich wurde der "Kneter" in Hamburg rasch heimisch. "Ich habe hier ein tolles Umfeld gefunden und nette Leute kennengelernt. Ich bin ein richtiger HSV-Fan geworden", erzählte der gelernte Einzelhandelskaufmann.
Ein Seelsorger mit heilenden Händen
Die tiefe emotionale Bindung zu dem Verein resultiert gewiss auch aus den erfolgreichen Anfangsjahren seiner Tätigkeit. Als Rieger in Hamburg begann, erlebte der HSV seine sportlich beste Zeit. Drei Meisterschaften sowie den Sieg im Europapokal der Landesmeister (1983) und im DFB-Pokal (1987) durfte der Masseur mit dem Team feiern. Auf seiner Liege ließen sich Stars wie Felix Magath, Peter Nogly, Horst Hrubesch, Manfred Kaltz und Franz Beckenbauer - um nur einige zu nennen - behandeln. Hochbezahlte Nationalspieler, die ihren sportlichen und privaten Kummer gerne bei Rieger abluden. Sein Massageraum auf dem früheren Trainingsgelände in Ochsenzoll wurde nicht selten zum Beichtzimmer für geschundene Profis. Rieger war beim HSV der Mann für alle Fälle, ein Seelsorger mit heilenden Händen. "Er war mein bester Transfer", hat Netzer einmal gesagt.
"Dann flogen die Hühnchen durchs Hotel"
Rieger hat viele Trainer und Spieler kommen und gehen sehen. Mit seinen Erinnerungen könnte er etliche Bücher füllen. An eine Autobiographie aber hat der loyale "Kneter" nie gedacht. Nur einige wenige Anekdötchen ließ er sich entlocken. So verriet er, dass während der Trainer-Ära Branko Zebec (1978 bis 1980) regelmäßig einige Akteure wegen Überbelastung "gekotzt" hätten. Dessen Nachfolger Ernst Happel wiederum hatte eine ganz andere Marotte. "Die Trainingslager durften nie weiter als 20 Kilometer von einem Kasino entfernt sein", erzählte Rieger dem "Abendblatt". Er sei dann dafür zuständig gewesen, das Geld des österreichischen Coaches zu bewachen. Ein anderer Übungsleiter ließ den Physiotherapeuten derweil ratlos zurück: Josip Skoplar. Während der kurzen Amtszeit des Kroaten (1987) sei es den Profis gestattet gewesen, bereits mittags Rotwein zu trinken. "Ich sagte, das geht doch nicht, Josip. Aber er meinte, das wäre okay. Und dann flogen beim Essen die Hühnchen durchs Hotel", erinnerte sich Rieger.
Dem Schicksal die Stirn geboten
Der Masseur selbst hat nie für Skandale gesorgt. Und doch sind es keine positiven Schlagzeilen, die 2004 über ihn in großen Artikeln zu lesen waren. Rieger erkrankte an Prostatakrebs und musste seine Tätigkeit beim HSV schweren Herzens beenden. Das Echo auf die schreckliche Nachricht war gigantisch. Aus ganz Deutschland erreichten Rieger Genesungswünsche. Er nahm den schwersten Kampf seines Lebens an und gewann ihn zunächst. Doch der Krebs kam wieder. Erneut bezwang er ihn, um nur wenig später einen weiteren Schicksalsschlag zu erleiden: 2010 starb seine Frau Petra. Der gläubige Katholik fand in dieser Zeit Halt in der Religion und wurde von seinen früheren Wegbegleitern liebevoll umsorgt. Das ist noch heute so. Es vergeht kein Tag, an dem sich nicht irgendein Ex-HSV-Profi, -Funktionär oder -Fan beim inzwischen im niedersächsischen Alfstedt beheimateten Kult-Masseur meldet. Sie haben ihn nicht vergessen, den Seelsorger mit den heilenden Händen. Und auch Rieger trägt die Raute noch immer tief in seinem Herzen: "Ein Leben ohne den HSV wäre für mich undenkbar."
- Teil 1: Die personifizierte Loyalität
- Teil 2: Netzers Lockruf erlegen