Podcast "Aufruhr": #3 Demos - Bürgerbeteiligung besser gestalten?
Viele Menschen in Mecklenburg-Vorpommern sind frustriert und fühlen sich nicht genügend in politische Entscheidungen einbezogen. Das Gefühl, übergangen zu werden, bestimmt Proteste und die Kommunikation darüber. Wie findet man aus einem emotionalen Aufruhr zurück zu einem konstruktiven Dialog? Folge #3 widmet sich der Frage, wie Bürgerbeteiligung besser gestaltet werden kann.
Eine Bürgerversammlung eskaliert. In der vorpommerschen Kleinstadt Loitz leben 33 syrische Geflüchtete in einer ehemaligen Grundschule. Inmitten der aufgeheizten Stimmung behauptet ein elfjähriges Mädchen, hinter einem Supermarkt attackiert worden zu sein. Die Anzeige entpuppt sich nach intensiven Ermittlungen der Polizei als Lüge - das Mädchen gesteht. Der vermeintliche Vorfall facht die Stimmung gegen die Unterbringung von Flüchtlingen weiter an. Offen fremdenfeindliche Rufe schallen durch den Saal des Bürgerdialogs. Vor Ort ist auch der Integrationsbeauftragte des Landkreises Vorpommern-Greifswald Ibrahim Al Najaar. Er appelliert an diesem Abend im Januar 2023 an die Menschenwürde - die Menschen im Saal lachen.
"Uns hört schon lange keiner mehr zu. Und da wird einfach über unsere Köpfe hinweg entschieden." Anne Siemonsmeier, Sprecherin des AfD-Kreisvorstandes Mecklenburgische Seenplatte
Das Gefühl, übergangen zu werden
Die Diskussion um die Unterbringung von Geflüchteten wird in diesem Jahr nicht nur in Loitz geführt. Auch in Grevesmühlen, Bützow, oder Upahl beschäftigen geplante Geflüchteten-Unterkünfte Stadtvertretungen und die Bürger vor Ort. Laut deutschem Asylgesetz werden Asylsuchende nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt. Dieser berücksichtigt für seine jährliche Berechnung sowohl Steuereinnahmen als auch die Bevölkerungsdichte.
MV im unteren Drittel: 3.057 Geflüchtete auf 1,6 Millionen Einwohner
Für das Jahr 2023 liegt Mecklenburg-Vorpommern im Bundesländer-Vergleich mit knapp zwei Prozent der aufzunehmenden eingereisten Asylsuchenden bundesweit im unteren Drittel. Nur das Saarland und die Stadt Bremen nehmen jährlich noch weniger Geflüchtete auf. Im Nordosten entscheidet das Amt für Migration und Flüchtlingsangelegenheiten (AMF) im Landesamt für innere Verwaltung über die Verteilung. Das Autorinnen-Team stellt im Zuge der Recherche fest, dass sich Bürgerinnen und Bürger in diese Entscheidungen häufig nicht genug eingebunden fühlen, wie beispielsweise in Loitz.
Der Podcast hat es auf die Votingliste zum Deutschen Podcastpreis 2024 für den Publikumspreis in der Kategorie "Information" geschafft. Noch bis 20. Mai könnt ihr hier für "Aufruhr" stimmen.
Viele Formen der politischen Beteiligung
Die Demokratie lebt von der politischen Beteiligung, die ganz unterschiedlich aussehen kann - halten die Autorinnen des Podcasts nach Gesprächen mit Beteiligten und Experten für sich fest: "Wir nehmen an Wahlen teil, können Parteien beitreten, Vereine oder Initiativen gründen, um unsere Interessen zu stärken. Dazu gehört auch der Fokus dieses Podcasts - Demonstrationen". Wenn Menschen auf die Straße gehen, Forderungen erheben und sich positionieren, sei das zunächst als "Akt der Demokratie" zu begreifen, wie Demokratie-Forscher Dierk Borstel schon in Folge #1 eingeordnet hat. Wenn sich Bürger jedoch übergangen fühlen, sei dies das Worst-Case-Szenario. Die Eskalation solcher Demos kann ein Symptom fehlender Bürgerbeteiligung sein.
Die "Kehrseite" von Bürgerbeteiligung
Am Beispiel von Loitz werden nach Ansicht des Podcast-Teams zwei Dinge augenfällig, die einen konstruktiven Dialog erschwert haben. "Weil an diesem Ort zwei grundlegende Probleme deutlich werden. Zum einen überlagern solche hoch emotionalen Proteste eine konstruktive Suche nach Lösungen bzw. machen eine Einigung und Planung für Unterstützungsstrukturen fast unmöglich", so die Autorinnen. Unter diesen Umständen sei der notwendige Prozess, Bürger einzubinden, eine Unterbringung vor Ort zu managen und Ängste in der Bevölkerung abzubauen, schwierig, sagt auch Borstel, "umso schwieriger, weil dann dieser emotionale Protest erst einmal alles überlagert."
Rechtsextremisten und Querdenkende "kapern" Protest
Zum anderen zeigt das Beispiel Loitz in den Augen der Journalistinnen auch sehr anschaulich, wie Proteste "gekapert" werden können. Denn viele Teilnehmer des Protests zu Beginn des Jahres in Loitz wohnen nicht im Ort, sondern sind bekannte Rechtsextremisten, die nicht nur den Protest für ihre Zwecke nutzen, sondern auch als Teilnehmer des Bürgerdialogs mit offen fremdenfeindlichen Zwischenrufen Stimmung machen. "Immer dann, wenn die Mitte empfänglich wird auch für rechtsextreme Parolen oder Positionen, dann empfinden das Rechtsextremisten als große Unterstützung", sagt Extremismus-Forscher Borstel. "Sie fühlen sich motiviert."
Raum für Dialog - Strukturen wiederbeleben
Wie kann der Unmut als Folge fehlender Bürgerbeteiligung verhindert werden? Bürger in große Entscheidungen frühzeitig miteinzubeziehen, mit ihnen in den Dialog zu treten, über ihre Fragen, Sorgen und Ängste zu sprechen, für echte Bürgerbeteiligung konstruktive Räume schaffen: Einen Versuch, solche Strukturen wiederzubeleben, gibt es südlich von Greifswald in Pasewalk. Die Autorinnen besuchen die Pasewalker Citymanagerin Claudia Große, die sich diese Ziele auf die Fahne geschrieben hat. Sie soll Pasewalk über die Stadtgrenzen hinaus bekannt machen, die Stadt weiterentwickeln. Dazu gehört für Große auch, die Bürgerbeteiligung zu stärken.
Pasewalk als Modellprojekt für neue Beteiligungsstrukturen
Als die gemeinnützige Organisation "More in Common" zusammen mit der "Initiative offene Gesellschaft" fünf Städte als Modellregionen auswählt, um neue Beteiligungsstrukturen zu schaffen, reicht sie eine Bewerbung für Pasewalk ein - mit Erfolg. Das Ziel der gemeinsam angeschobenen Projekte ist unter anderem die "Selbstwahrnehmung" der Stadt zu verbessern. Eine Straßenumfrage nach Wohlfühlorten in der eigenen Stadt, ein "Erzählcafé" für Senioren und Seniorinnen, eine Ausstellung zum Thema Bürgerbeteiligung, eine Ideenwerkstatt, ein Fahrradverleih, eine Open-Air-Kinoreihe und ein Info-Point mit Veranstaltungshinweisen in der Innenstadt hat Pasewalk seit Beginn des Projekts bereits auf die Beine gestellt. "Wichtig ist, dass es dabei über Kommunikation hinausgeht," sagt Große. "Von daher tut sich da schon etwas. Und ich glaube, wenn die Leute dann sehen, dass sie etwas bewirken können und sie nicht einfach nur Wünsche äußern und nie passiert irgendetwas - dann steigt die Motivation glaube ich."
Der Podcast hat es auf die Votingliste zum Deutschen Podcastpreis 2024 für den Publikumspreis in der Kategorie "Information" geschafft. Noch bis 20. Mai könnt ihr hier für "Aufruhr" stimmen.