Bilder-Collage einer Demonstration © NDR | [M] softulka/ annetdebar/zef art/ arturaliev /stock.adobe.com
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AUDIO: #01 Aufruhr – Wie gefährdet ist unsere Demokratie? (24 Min)

Podcast "Aufruhr": #1- Wie gefährdet ist unsere Demokratie?

Stand: 04.09.2023 19:21 Uhr

In ganz Deutschland gehen Menschen auf die Straße: Zunächst gegen Corona-Maßnahmen und Impfkampagnen. Die Pandemie hat viele Menschen in Aufruhr versetzt. Aber auch nach dem Ende der Pandemie sind diese Demos nicht verschwunden. Für den Podcast "Aufruhr - Über Wut, Demos und Zusammenhalt" haben sich die Journalistinnen Aniko Schusterius, Margareta Kosmol und Leonie Hartge auf eine Reise durch Vorpommern begeben.

Eine große Deutschlandflagge bewegt sich im Wind, am Kai in der Wolgaster Innenstadt in Vorpommern setzt an diesem Aprilabend bei sieben Grad langsam die Dämmerung ein. Ungefähr 100 Menschen haben sich, wie eigentlich an jedem Dienstagabend versammelt. Ein Sprecher betritt die Bühne:

"Heute haben wir hier Pressevertreter anwesend, die jungen Damen, die wollen sich hier, vom NDR glaube ich, wollen sich ein Meinungsbild der Teilnehmern mal machen. Viel Glück dabei, ich weiß nicht, ob aufgrund ihrer Vorarbeit das jetzt noch möglich ist. Hören sie erstmal zu, […] also aufgepasst!" Redner bei einer Demonstration in Wolgast (18. April 2023)

Schnell wird den drei jungen Journalistinnen Aniko Schusterius, Margareta Kosmol und Leonie Hartge klar, dass sie auffallen. "Es fühlt sich gerade ein bisschen so an, als würden wir auf eine Geburtstagsfeier gehen, auf der wir aber nicht eingeladen sind. Alle kannten sich untereinander, umarmten sich und bezeichneten sich selbst als eine 'Demo-Familie'. Wir fielen natürlich direkt auf," erinnert sich Reporterin Margareta Kostol an die erste Demo auf ihrer Recherchereise. Dabei laufen Friday-for-Future-Anhänger und die "Mitte der Gesellschaft" neben Alt-Linken, Verschwörungsgläubigen, Politikern der AfD und bekennenden Neonazis - Positionen, die teils gegensätzlicher nicht sein könnten. Im nordöstlichsten Zipfel der Republik nimmt der Podcast "Aufruhr" den seit der Corona-Krise allgegenwärtigen Protest exemplarisch unter die Lupe und fragt nach, ob - nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern - unser gesellschaftliches Miteinander ins Wanken gerät.

Mit Ende der Pandemie erweitert sich die Agenda der Demos

Mit Themen wie "Angst vor erneuten Impfaktionen", möglichen "Impfschäden" und der Aufarbeitung der vermeintlichen Fehler der Regierung bleibt Corona, nicht nur auf dieser Demo im April 2023 in Wolgast ein Thema. Aber andere Themen sind dazu gekommen. Dem Redner auf der Bühne in Wolgast zufolge demonstriert man im Frühjahr 2023 gleichzeitig gegen von Inflation, Waffenlieferungen an die Ukraine, die Energiekrise, LNG-Terminals auf Rügen. Was die Teilnehmenden eint, ist eine generelle Kritik an "denen da oben" wie die Demonstrierenden es formulieren. Auch Verschwörungsmythen, Antisemitismus und Rassismus begegnen den drei Journalistinnen immer wieder auf ihrer Reise durch die Demonstrationen in Vorpommern, in kleinen Orten wie Lubmin, Wolgast und Greifswald.

"Jedermann hat das Recht, öffentliche Versammlungen und Aufzüge zu veranstalten und an solchen Veranstaltungen teilzunehmen." Art. 8 Abs.1 GG: §1 

Worum geht es den Demo-Teilnehmenden wirklich?

Was passiert eigentlich, wenn die Demo-Agenda immer unschärfer wird und es nicht mehr um den Kampf für eine Sache, sondern das bloße Demonstrieren zu gehen scheint? Wenn Menschen auf die Straße gehen, Forderungen erheben und sich positionieren, sei das zunächst als "Akt der Demokratie" zu begreifen, ordnet Dierk Borstel ein. Der Professor für angewandte Sozialwissenschaft hat viele Jahre in der Region gelebt und vorrangig zu Rechtsextremismus und Demokratie geforscht. Anschließend müsse man genauer schauen, was gefordert wird, wie es gefordert wird, wer es dort fordert, so Borstel.

Die "bewegliche Mitte" der Gesellschaft

Ein Großteil der Demonstrierenden sei einem "Teil aus der Mitte der Gesellschaft" zuzurechnen, den er die "bewegliche Mitte" nennt. Und diese "bewegliche Mitte" sei es, die jetzt auf der Straße ist, so Borstel. Diese zeichne sich einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge dadurch aus, dass sie situationsabhängig reagiert und sich - je nach Diskurs - mal denen anschließt, die eher für eine offene Gesellschaft stehen und mal denjenigen, die für geschlossene, auch nationalistische Systeme stehen. Und diese "bewegliche Mitte" mache mit über 50 Prozent bundesweit den größten Teil der Gesellschaft aus. Was die Demonstrierenden verbinde, sei laut Borstel "die grundsätzliche Kritik" sowie bei Teilen der Demonstrierenden "auch die grundsätzliche Ablehnung der bisherigen politischen Spielregeln und damit auch der grundsätzlichen Demokratiefrage".

Podcast "Aufruhr - Über Wut, Demos und Zusammenhalt"

Der Podcast "Aufruhr" fragt in der ersten Folge, wie eine Gesellschaft verhindern kann, dass immer mehr Menschen genau die demokratischen Grundsätze infrage stellen, die eigentlich "so etwas wie unsere DNA des friedlichen Zusammenlebens" sind. Dass es dabei klare Linien geben muss, darüber sind sich die Macherinnen des Podcasts einig, wo diese Linien verlaufen darüber gibt es derzeit unterschiedliche Meinungen. Klar ist aber, dass diese Linien spätestens dort verlaufen, wo es strafrechtlich relevant wird. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es derzeit 1.790 aktive Rechtsextremisten und 650 Reichsbürger, wie der Verfassungsschutzbericht 2022 auflistet. Rechtsextremismus gilt demnach in MV und bundesweit als die größte Bedrohung für unsere Demokratie. Auf ihrer Recherchereise treffen die Journalistinnen auf den Demonstrationen auch auf Menschen, die sich nicht klar abgrenzen. Und sie begegnen Menschen, die gerade eine politische Gratwanderung durchmachen.

"Die behaupten, wir sind alle rechtsextrem. Nein, wir haben nur unsere Meinung. Wir haben einfach extrem recht." Junges AfD-Mitglied und Teilnehmer einer Demonstration auf Rügen (Frühjahr 2023)

Eine Gefahr für unsere "Demokratie"?

"Das sind nicht alles Rechtsextreme, damit täte man vielen unrecht", so Borstel. Nicht alle, die "mitlaufen" hinterfragen dabei gleich unsere Demokratie, es gebe durchaus in manchen Punkten Kritik. Dennoch "gehen sie zusammen mit denjenigen, die genau diese Frage stellen". Gründe dafür seien oft Angst vor Veränderungen oder geteilter Unmut, wenn politische Entscheidungen vermeintlich über ihre Köpfe hinweg gefällt würden. Über die Grundidee der Demokratie herrsche breiter Konsens, das belegen laut Borstel zahlreiche Umfragen und Studien. Groß sei allerdings der Frust über die Ausformung, wenn es zum Beispiel um konkrete Mitbestimmung geht. "Da hat man dann mitunter sehr viel negative Erfahrungen." Die Gefahr sieht Borstel darin, dass demokratiefreundliche Menschen neben demokratiefeindlichen Menschen laufen. Damit sei seiner Ansicht nach ein "Tabu gefallen".

Der Podcast hat es auf die Votingliste zum Deutschen Podcastpreis 2024 für den Publikumspreis in der Kategorie "Information" geschafft. Noch bis zum 20. Mai könnt ihr hier für "Aufruhr" stimmen.

Weitere Informationen
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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | 05.09.2023 | 08:00 Uhr

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