John Eliot Gardiner: Liebe und ein jähes Ende
Wenn heute ein Dirigent, der von der Alten Musik kommt, das NDR Sinfonieorchester leitet, dann erregt das kein besonderes Aufsehen mehr. Als vor fast 15 Jahren der Brite John Eliot Gardiner, einer der Mitbegründer der historischen Aufführungspraxis, den Chefposten in Hamburg antrat, war das noch ein bisschen anders. Und so musste er seiner Überzeugung immer wieder neu Ausdruck verleihen: "Es gibt keine exklusive Wahrheit, dass ein Stück entweder mit historischen oder mit modernen Instrumenten gespielt werden muss. Das ist für mich kein Problem. Ich schätze alle beide Möglichkeiten."
John Eliot Gardiner folgte 1991 auf den Altmeister Günter Wand. Und der Kontrast zwischen den beiden Dirigenten hätte kaum größer sein können. Doch beim Orchester war es Liebe auf den ersten Blick, als Gardiner zwei Jahre vorher beim Eröffnungskonzert des Schleswig-Holstein Musikfestivals kurzfristig für Wand eingesprungen war - seine erste Begegnung mit den NDR-Musikern, aber nicht sein erster Auftritt in Norddeutschland. Immerhin hatte er bereits neun Jahre lang als künstlerischer Leiter bei den Göttinger Händelfestspielen interpretatorische Maßstäbe gesetzt.
Chefdirigent mit zu wenig Zeit?
Das Orchester hätte ihn am liebsten sofort nach Hamburg geholt, aber der Brite hatte noch etliche anderweitige Verpflichtungen. (Übrigens nicht nur musikalischer Natur: In Südengland betreibt er auch einen Biobauernhof.) Und so blieb es auch während der folgenden drei Spielzeiten, was immer wieder mal die Kritik hervorrief, er nehme seine Verpflichtungen als Chef nicht angemessen wahr. Doch Gardiner hatte ohnehin nur einen auf drei Jahre befristeten Vertrag ohne Verlängerungsoption abgeschlossen und wehrte sich: "Ich habe immer gesagt, dass meine Zeit sehr beschränkt ist, und ich könnte nur höchstens 60 Tage im Jahr mit dem NDR Sinfonieorchester in Hamburg arbeiten. Ich muss meine Arbeit ganz einfach reduzieren, nicht zuletzt wegen meiner Familie. Aber das Orchester und ich haben zwei Spielzeiten hindurch hart und, wie ich glaube, wirklich erfolgreich gearbeitet, und unsere Konzert- und Schallplattenaufnahmen beweisen es."
Die Vielseitigkeit eines Barockspezialisten
Seine Aufnahmen mit dem NDR Sinfonieorchester erschienen bei der Deutschen Grammophon und zeigen den ehemaligen Barockspezialisten als sehr vielseitigen Dirigenten: Brahms, Dvořák, Janáček, Zemlinsky und als ein diskografischer Höhepunkt ein Livemitschnitt von Brittens "War Requiem“. Am häufigsten standen jedoch während Gardiners Hamburger Zeit Schumanns sinfonische Werke auf dem Progamm; eine Neuentdeckung war für ihn - und ziemlich neu auch noch für das Orchester - das Oeuvre von Gustav Mahler.
Gardiner stützte seine Interpretationen auf intensive Quellenforschung und profitierte dabei von den Erfahrungen aus der historischen Aufführungspraxis. Dadurch gab es für das Publikum auch bei bekannten romantischen Werken immer wieder spannende Hörerlebnisse. Aber für den Dirigenten steckte noch mehr dahinter: „Die Gefahr ist so oft, dass wir alles zu gleichmäßig, zu monoton spielen. Es gibt nicht genug Kontrast zwischen unserer Aufführung von Mozart und unserer Aufführung von Richard Strauss. Und das bedauere ich sehr. Ich glaube, es ist eine sehr große Gefahr jetzt für die modernen Sinfonieorchester. Und mit dem NDR Sinfonieorchester haben wir versucht, diese Originalität auch neu zu finden.“
Vorzeitige Beendigung des Vertrages
Ganz ohne Reibungen verlief die Zusammenarbeit allerdings nicht. Musiker und Orchestermanagement hatten es zwar mit einem freundlichen, humorvollen Menschen zu tun, aber auch mit einem arbeitswütigen Perfektionisten, der unter Zeit- und Erfolgsdruck unduldsam werden konnte. Auf eigenen Wunsch beendete Gardiner seinen Vertrag ein Jahr früher als geplant. Aber was immer es an Spannungen gegeben haben mag, auf der Bühne war davon nichts zu spüren. Und wenn er richtig gut gelaunt war, fing er auch mal selbst an zu singen, wie 1993 an der Seite von Anne Sofie von Otter in Kurt Weills "Lady in the Dark".