Herbert Blomstedt: Familie für ein Jahr
In der 70-jährigen Geschichte des NDR Sinfonieorchesters hat er nur ein Jahr lang als Chefdirigent eine Rolle gespielt. Aber kaum einer ist den Hamburger Musikern seit seinem Abschied so liebevoll verbunden geblieben wie der Schwede Herbert Blomstedt. Und so ist bei der gemeinsamen Arbeit längst Wirklichkeit geworden, was er vor 20 Jahren noch als Hoffnung formuliert hatte: "Das ist wie Samenpflanzen: Das wird wachsen. Und man muss da mit Geduld weiter arbeiten. Wir hoffen, dass auch der Regen und Segen dazukommt, auf die wir keinen Einfluss haben, so dass es ein wunderschöner Garten wird." So poetisch drückte Herbert Blomstedt sich bei der Vertragsunterzeichnung über seine künftige Arbeit mit dem NDR Sinfonieorchester aus.
Dann wurde er sachlicher: 12 bis 14 Wochen werde er pro Spielzeit in Hamburg sein. Das klingt nach wenig, aber: "Das werden sehr intensive Perioden, und ich hoffe, sie werden fruchtbar sein. Man soll auch nicht zu viel da sein, denn das Orchester braucht viele Impulse und wird sie auch bekommen. Aber wenn es zu wenig ist, kommt der Wind, und es weht weg."
Abtritt nach nur einem Jahr
Dass ihn selbst der Wind schon bald wieder nach Süden wehen würde, das ahnte zu diesem Zeitpunkt wohl niemand. Erst mal freute Blomstedt sich auf: "Eine große Verantwortung und eine wunderschöne Aufgabe. Das Orchester ist großartig, und ich glaube, wir können unsere Präsenz in dieser herrlichen Stadt noch erweitern und steigern. Ich meine damit, dass man noch mehr Publikum erreicht, dass man die Schönheiten dieses Repertoires, das das Orchester hat, näher an den Menschen bringt." Das war 1996. Damals hatte der Schwede schon je ein Jahrzehnt mit zwei bedeutenden Orchestern zusammengearbeitet: der Dresdner Staatskapelle und der San Francisco Symphony. Warum also nicht eine weitere Dekade in Hamburg? Doch nach nur einem Jahr nutzte Blomstedt seine Chance und trat am Leipziger Gewandhaus die Nachfolge von Kurt Masur an.
Ein Credo, immer neue Erlebnisse
Seine Herangehensweise war bei allen Orchestern ähnlich: "Das Selbstverständliche werde ich immer meiden. Auch wenn ich ein Programm mit nur Beethoven-Sinfonien oder nur Bruckner spiele, kann ich nie nur etwas wiederholen, was einige Andere wiederholt haben oder was ich voriges Jahr wiederholt habe - das muss immer etwas Neues sein, ein neues Erlebnis für mich, für meine Musiker und für das Publikum." In Hamburg wollte er verstärkt Richard Strauß und Gustav Mahler anbieten und natürlich die drei großen Bs weiter pflegen - Beethoven, Brahms und Bruckner; er wollte zeitgenössische Musik im Programm etablieren, ohne dabei die alte Musik den Spezialensembles zu überlassen: "Kein Orchester kann die Spielkultur erhalten oder fördern, wenn sie nicht Haydn und Mozart sehr viel spielen. Das gibt eine Art von Artikulation und hilft den Klangvorstellungen sehr viel."
Orchestermusiker sind mehr als ein Rad im Getriebe
Herbert Blomstedt gilt als ein Dirigent, der nicht den eigenen Ruhm, sondern den des Orchesters sucht. Immer freundlich, aber auch streng in der Sache. Streitigkeiten hat es unter seiner Leitung nicht gegeben. "Das ideale Musizieren ist doch, wenn alle hören, was alle spielen. Das Orchester sollte wie ein großes Streichquartett funktionieren, und dann macht es auch am meisten Spaß. Der Dirigent kann noch so viel domptieren, tyrannisieren oder probieren: Er muss auf das bauen, was im Orchester ist. Denn wir wollen uns ja alle ausdrücken, wir wollen nicht nur ein Rad im Getriebe sein, sondern mit der Seele, mit unserer Seele, mit meiner Seele mitreden."
Auch mit fast 90 Jahren kehrt Herbert Blomstedt nach seinem viel zu kurzen Chef-Intermezzo immer wieder gern als Gastdirigent nach Hamburg zurück: "Das ist irgendwie wie ein Nachhausekommen zur Familie. Ich kenne ja fast alle, die im Orchester sitzen. Auch wenn ich nicht täglich an diese Musiker denke, ich brauche sie nur zu sehen, dann fällt mir gleich der Name ein. Es ist, als ob keine Zeit vergangen wäre."