Zeitreise: Wilhelm Spiegel - Ein erstes prominentes Opfer der Nazis in Kiel

Stand: 12.03.2023 17:44 Uhr

Der Anwalt wurde durch seine politische Einstellung und seinen Einsatz für Linke, SPD-Mitglieder und Kommunisten zum Zielobjekt der Nationalsozialisten. Die Täter wurden nie zur Verantwortung gezogen.

von Isabelle Breitbach

Die Nacht vom 11. auf den 12. März 1933 war eine dramatische für ganz Kiel: Es war die Nacht vor den Kommunalwahlen und den Provinziallandtagswahlen. Die Nacht, nachdem die NSDAP-Spitze das Kieler Rathaus besetzte, den amtierenden Bürgermeister aus dem Amt jagte. Die Nacht, die wohl viele politisch aktive Menschen in Kiel um den Schlaf brachte.

Täter klingeln mitten in der Nacht

Um 1.30 Uhr klingelt es dann zwei Mal an der Haustür der Familie Spiegel in einer Villa im Forstweg 42. Emma Spiegel öffnet ein Fenster im Obergeschoss, fragt, was los sei. "Aufmachen, Polizei!", antworten ihr die beiden Männer vor der Tür. Sie sei erstaunt gewesen, habe gefragt: "Was, mitten in der Nacht?", gibt Emma Spiegel in derselben Nacht zu Protokoll. Während sie die Telefonzentrale anruft, sich erkundigt, ob es sein könne, dass die städtische Polizei zu dieser Zeit Durchsuchungen durchführt, geht Wilhelm Spiegel nach unten und öffnet die Tür.

Dass er mächtige Gegner hat, denen alles verhasst ist, wofür er steht, dürfte Wilhelm Spiegel längst gewusst haben. Ein erfolgreicher Anwalt, der im ersten Weltkrieg gedient hatte, später immer wieder als überzeugter Verteidiger der Weimarer Republik auffiel. Aufsehen erregte er aus vielerlei Gründen: Als Sozialdemokrat, der seit 1911 als Kommunalpolitiker in der Kieler Ratsversammlung saß, als Großbürger, der 1920 aktiv in den Kapp-Putsch eingriff und mit einer Lokomotive von Altona aus Waffen für die Verteidiger der Republik nach Kiel schaffte und mit seiner politischen Karriere als Stadtverordneter, ja sogar Stadtverordnetenvorsteher für fünf Jahre. Und nicht zuletzt als Jude.

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Spiegel wurde zur "Personifizierung des NS-Gegner"

All das machte ihn bereits zu einer Art "Personifizierung des idealtypischen NS-Gegners", erklärt der Historiker Uwe Danker, Leiter der Forschungsstelle für regionale Zeitgeschichte und Public History in Schleswig. Als Gegner der erstarkenden Rechten war Spiegel auch deshalb bekannt, weil er sich als Strafverteidiger vor allem für Linke, für SPD-Mitglieder und Kommunisten einsetzte. Sein bekanntester Fall: der Hitler-Wurbs-Prozess in Kiel 1932. Damals hatte die NSDAP Kurt Wurbs, den Chefredakteur der Kieler Volkszeitung, verklagt, nachdem seine Zeitung berichtet hatte, die Nationalsozialisten würden einen gewalttätigen Putsch anstreben. Ein solcher Putsch, so der Historiker Uwe Danker, wurde zwar zuvor in den sogenannten Boxheimer Dokumenten von einem jungen Nationalsozialisten präzise beschrieben. Trotzdem klagte die NSDAP gegen Wurbs und verlangte den Widerruf dieser Behauptung. Spiegel verteidigte den Chefredakteur vor dem Amtsgericht und in der Revision vor dem Landesgericht - und er ließ Adolf Hitler als Zeugen vorladen. Ein mutiges, aber letztendlich erfolgloses Unterfangen. Hitler ließ sich durch Ernst Röhm vertreten, der behauptete, die NSDAP lehne den Staatsstreich ab. Spiegel und sein Mandant Kurt Wurbs verloren den Prozess, was die Volkszeitung an den Rande eines Verbots brachte und dafür sorgte, dass der Verteidiger Spiegel endgültig ins Visier seiner Feinde geriet.

Gefährliche Zeit für Kommunisten und Sozialdemokraten

Am Ende der Weimarer Republik wurden die Fenster von Spiegels Villa im Forstweg bereits mehrfach mit Steinen eingeworfen. Der Überfall in der Nacht vom 11. auf den 12. März dürfte also für Spiegel nicht ganz unangekündigt gekommen sein, schätzt der Historiker Uwe Danker. Es habe schon seit dem Wahlkampf im Juli 1932 massive Gewalttaten gegeben - eine gefährliche Zeit für Kommunisten und Sozialdemokraten. Umso gefährlicher für den Juden Spiegel: Dass er sich angemaßt hatte, Hitler als obersten Führer der Nationalsozialisten vor Gericht zu ziehen, machte ihn zum Zielobjekt.

Als er in der Nacht dieser Tür öffnet, stehen zwei Herren vor ihm, einer in SA-Uniform. Emma Spiegel versucht noch immer herauszufinden, ob dies eine echte Polizeikontrolle sein kann, als sie einen Schuss hört. Sie findet ihren Mann mit durchschossener Schläfe auf der untersten Stufe - bewusstlos. Die Männer, die ihn getötet haben, sind weg. Wer sie waren, steht bis heute nicht fest. Dabei nahm die Kriminalpolizei noch in der selben Nacht die Ermittlungen auf, vernahm nur zwei Stunden nach dem Mord die Witwe Emma Spiegel.

Falsche Anschuldigungen und gespieltes Interesse

Ein Mann sitzt in einem Büro für ein Interview vor der Kamera © NDR
Historiker Uwe Danker meint: Die Verantwortlichen für die Entwicklungen hatten damals kein echtes Interesse, den Tod aufzuklären.

Einige Akten zum Fall Spiegel liegen bis heute im Landesarchiv. Wenige Schritte entfernt arbeitet Uwe Danker. In der Forschungsstelle für regionale Zeitgeschichte hat der Historiker sich intensiv mit dem Fall beschäftigt und stellt fest: "Die Ermittlungen waren bezogen auf den Tathergang und die Auswertung der Zeugenaussagen im objektiven Bereich absolut korrekt." Nur wie sie 1933 interpretiert wurden, sei problematisch. Was zu diesem Zeitpunkt bekannt war: Vier Männer waren beteiligt, mindestens drei davon trugen laut Zeugenaussagen SA - bzw. SS-Uniform.

Aus dem Bericht des Polizeipräsidenten vom 27. März geht allerdings hervor: Schon am Morgen nach der Tat wurden Mitglieder der SPD verhaftet, die Flugblätter zum Mord an Spiegel verbreitet hatten. So schnell habe man diese nicht produzieren können, hieß es. "Absurder Unsinn", so der Historiker. Verdächtigt wurden auch persönliche Gegner Spiegels oder Kommunisten, die "sich in unbefugter Weise in S.A.- oder S.S.-Uniform kleideten, um dadurch die Nationalsozialistische Bewegung zu schädigen", heißt es im Bericht. Eine These, die einen Tag nach dem Mord auch in den Kieler Neuesten Nachrichten verbreitet wurde. Eines fällt Danker rückblickend ganz besonders auf: "Die Unterstellung, dass andere diese Parteikleidung, SA-Uniformen und so weiter als Verkleidung genutzt hätten, macht deutlich, wessen Geistes Kind die Verantwortlichen waren." Verantwortliche, die gleichzeitig eine Belohnung von 1.000 Reichsmark für wichtige Hinweise im Spiegel-Fall aussetzen, um ihr Ermittlungsinteresse zu unterstreichen. Für den NS-Experten Uwe Danker ein schlichter Fake, denn schon im Sommer 1933 stellten sie das Verfahren ein.

Keine Beweise, keine Tatwaffe

Wieder aufgenommen wird der Fall erst 1945. Nach Einschätzung des Historikers dürften die tatsächlichen Täter, die in das Haus Spiegels eingedrungen waren, damals längst bekannt gewesen seien. Jedoch hätten sie ein "einfaches Alibi" vorgebracht: Als Angehörige der Wache vor dem besetzten Kieler Rathaus seien sie unabkömmlich gewesen. "Das kann man als Alibi begreifen, aber auch als einen besonderen Tatverdacht." Ins Visier der Ermittlungen gerieten die mutmaßlichen Täter deshalb erst nach 1945 und wurden sogar phasenweise verhaftet. Das Problem: Es gab über Zeugenaussagen und die Aussagen der Betroffenen hinaus keine Beweise, die für eine Anklage gereicht hätten. Keine Tatwaffe, keine Fingerabdrücke. Ging also alles mit rechten Dingen zu?

Nicht ganz. Ein, zwei Dinge gebe es da schon, die einen bei näherer Betrachtung stutzig machen, erklärt Uwe Danker. Da wäre zum Einen die Zeugenaussage eines Dritten, der sich auf ein Gespräch mit einem der potenziellen Täter bezieht. Was der erzählt habe, nämlich, dass Spiegel über die Treppe nach oben fliehen wollte, sei eindeutig Täterwissen gewesen, das sich mit den polizeilichen Ermittlungen deckte. Aber 1945, zwölf Jahre nach der Tat, sei auch so etwas nicht besonders wertvoll.

Ein Gemälde von Wilhelm Spiegel hängt an einer weißen Wand © NDR
Das Porträt von Wilhelm Spiegel war auch in der Ausstellung "Kiel, Chanukka 1931" zu sehen.

Für Danker wäre aber auch eine Befragung der NSDAP-Spitze in Kiel dringend notwendig gewesen. Besonders, sagt er, hätte ihn die Vernehmung des ehemaligen Oberbürgermeisters Walter Behrens interessiert: "Der wäre der Akteur gewesen, der wohl am ehesten erfahren hat, als Kreisleiter, wer die Täter waren." Schließlich sei es um die SA- und SS-Wache des Rathauses gegangen. Doch Behrens wurde nach 1945 nie vorgeladen.

Heute: Ehrengrab, Gebäude- und Straßennamen

Die Familie hatte Kiel zu diesem Zeitpunkt längst verlassen. Noch im Jahr 1933 emigrierte sie in die Niederlande. Emma Spiegel starb dort nur zwei Jahre darauf. Den Mord an ihrem Mann, so vermuten viele, hat sie nie verwunden. Ihre drei Kinder überlebten die Schrecken der NS-Zeit. Als Entschädigung für den Schaden, den der Mord an ihrem Vater angerichtet hat, bekamen die beiden jüngeren Kinder, die noch in Ausbildung waren, 1959 jeweils 1.470 Mark. Das Grab Wilhelm Spiegels auf dem Alten Urnenfriedhof wurde 1946 in ein Ehrengrab umgewandelt, das die Stadt Kiel bis heute pflegt. Das Haus, in dem Stadtkasse und Standesamt untergebracht sind, trägt mittlerweile Spiegels Namen. Auch eine Straße in Wellsee ist seit 1993 nach ihm benannt. Eine Ehrung, die seine Kinder für den Straßenabschnitt des Forstwegs, in dem früher das Haus der Familie stand, 1947 abgelehnt hatten. Dort erinnert heute nur noch ein Stolperstein an Wilhelm Spiegel und die dramatische Nacht vom 11. auf den 12. März, in der sein Leben mit einem Schuss beendet wurde.

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Dampflokomotive aus dem 19. Jahrhundert. © dpa - report Foto: Votava

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Nachrichten für Schleswig-Holstein | 12.03.2023 | 19:30 Uhr

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