Zahl der Insolvenzen in Schleswig-Holstein steigt
Die Wirtschaft im Norden ist unter Druck - in den ersten neun Monaten 2024 ist die Zahl der Insolvenzen in Schleswig-Holstein gestiegen. Investoren für Firmen in der Krise zu finden, wird laut Experten immer schwieriger.
Der Blick ist gigantisch: Durch große Bürofenster sieht man aus dem fünften Stock direkt auf die Containerverladung im Kieler Hafen. Unten ist viel los. Oben auch. Insolvenzverwalter Reinhold Schmid-Sperber muss sich aber um die Betriebe kümmern, in denen es nicht so gut läuft. Und deren Zahl steigt laut Statistikamt deutschlandweit. Auch in Schleswig-Holstein: "75 Prozent der insolventen Betriebe können nicht mehr gerettet werden. Die Quote lag vor wenigen Monaten noch bei 25 Prozent", so Schmid-Sperber.
Insolvenzverwalter: Investoren fehlt Planungssicherheit
Der Insolvenzverwalter hat momentan keinen Blick übrig für das emsige Treiben vor seinen Fenstern. Er hat Hochkonjunktur und es wird seinen Angaben zufolge immer schwerer, potenzielle Investoren zu finden für insolvente Firmen und Betriebe. Denen fehle momentan vor allem die Planungssicherheit.
Unsicherheit durch Politik
Die politischen Rahmenbedingungen der vergangenen Jahre waren zu wechselhaft, erzählt der Insolvenzverwalter. Durch die gestiegenen Kreditzinsen sitze das Geld zudem nicht mehr so locker. Immer seltener können strauchelnde Betriebe weitergeführt werden.
Mehr Insolvenzen zum Beispiel im Baugewerbe und der Gastronomie
Viele Branchen sind in Sorge vor einer weiteren Konjunktureintrübung. So wurden im Baugewerbe von Januar bis September 2024 etwa 25 Prozent mehr Insolvenzverfahren eröffnet als im Vorjahreszeitraum. Im Gastgewerbe stiegen die Insolvenzen um 23 Prozent, im verarbeitenden Gewerbe um 50 Prozent. Die Zahlen für die Monate Oktober bis Dezember 2024 liegen noch nicht vor.
Gestiegene Kosten sind ein großes Problem
Gründe sind laut den Experten unter anderem die gestiegenen Kosten für Energie, Rohstoffe und Personal. Hinzu kommen die höheren Kreditzinsen nach einer langen Niedrigzinsphase. Dies mache sich gerade im Baugewerbe stark bemerkbar. Bei exportorientierten Wirtschaftszweigen - wie dem Maschinenbau oder den Kfz-Zulieferern - führte der Einbruch der Verkaufszahlen auf dem chinesischen Markt laut Statistikamt Nord zu Umsatzrückgängen im zweistelligen Bereich. Die Arbeitslosenquote in Schleswig-Holstein stieg im Dezember 2024 auf 5,9 Prozent (2023: 5,6 Prozent). Aktuell sind knapp 95.000 Menschen im Land ohne Arbeit.
Insolvenzen nicht nur durch Managementfehler
Laut Insolvenzverwalter Schmid-Sperber entstehen Insolvenzen klassischerweise durch Managementfehler. Doch momentan kämen seinen Angaben zufolge weitere Gründe hinzu. Die jahrelange Niedrigzinspolitik, sowie die finanziellen Hilfen des Bundes und der Landesregierung während der Corona-Pandemie ermöglichte es Betrieben, weiter zu existieren, auch wenn ihr Geschäftsmodell im Alltagsbetrieb nicht genug Geld in die Kasse brachte, so der Restrukturierungsexperte.
Insolvenzverwalter sieht Marktbereinigung
Er ist sich sicher: Die Beendigung der Niedrigzinsphase durch die Europäische Zentralbank änderte die Lage - nun würden die gestiegenen Kosten und Kreditzinsen zeigen, wer am Markt bestehen kann. Viele jüngere Unternehmen könnten dies nicht. Seit 20 Jahren arbeitet der Insolvenzverwalter in seinem Job. Er meint: "Nicht die aktuell gestiegene Zahl an Insolvenzen ist ungewöhnlich. Sondern die niedrigen Insolvenzzahlen der Vorjahre." Es sei also eine Art Nachholeffekt und eine Marktbereinigung.
Verödete Innenstädte im Land - Zeugen der Wirtschaftsflaute
Wild plakatierte Hinweise auf Shows statt dekorativer Auslage: Leerstand in den Innenstädten Schleswig-Holsteins. Weiterer Zeuge der derzeitigen Wirtschaftsflaute. "Uns blutet das Herz, wenn wir auf Schleswig-Holsteins Innenstädte schauen." Thomas Fröhlich vom Unternehmensverband-Nord ist frustriert. 55.000 Unternehmen vertritt sein Verband. Und dort sei die Stimmung schlecht: "Gleichermaßen hoch sind die Forderungen und Erwartungen an eine neue Bundesregierung", sagt Fröhlich. Zwar haben sich die Einkommen im Jahr 2024 stabil entwickelt, doch die ungewissen wirtschaftspolitischen Aussichten vor der Bundestagswahl führten zu Unsicherheiten, ist er sich sicher. Hinzu käme die steigende Arbeitslosigkeit.
Abwärtsspirale des stationären Einzelhandels
Das Ergebnis: Konsumzurückhaltung. Das ziehe die Umsätze nach unten, weiß der Verbandsvertreter. Fröhlich fordert von der neuen Bundesregierung einen drastischen Wechsel der Wirtschaftspolitik. Die Abwärtsspirale des stationären Einzelhandels solle seiner Meinung nach zum Beispiel mit Entlastung der Unternehmen von Bürokratie, Verringerung der Lohnnebenkosten und sinkenden Energiepreisen gestoppt werden. Er wirbt für längere Arbeitszeiten, um die Unternehmen wieder in Schwung zu bringen.
"Schleswig-Holstein muss erreichbarer werden"
Doch auch die Landespolitik sei gefragt. Er fordert neue Nutzungs- und Verkehrskonzepte für die Innenstädte. Verkehrsinfrastrukturprojekte - wie der Ausbau der A20 - sollten seiner Meinung nach vorangetrieben werden. "Schleswig-Holstein muss erreichbarer werden", sagt der Hauptgeschäftsführer des UV-Nord. Und verabschiedet sich. Sieben Neujahrsempfänge stehen heute noch auf seinem Programm.
Exportwirtschaft vor schweren Zeiten
Die bunten Glasfenster im Treppenhaus des Instituts für Weltwirtschaft zeigen eine Weltkarte. Handel mit der ganzen Welt: Auch das ist Schleswig-Holstein. Besonders die Branchen Maschinenbau und die Kfz-Zuliefererindustrie sind Exportgeschäfte. Doch der Absatzmarkt in China schrumpft. Zweistellige Umsatzrückgänge wurden laut Statistikamt Nord 2024 verzeichnet. "Die Kapazitäten in den Fabriken, die dort in den vergangenen Jahren schnell hochgezogen wurden, sind gekommen, um zu bleiben" sagt der Konjunkturforscher Jens Boysen-Hogrefe.
Sorgenvoller Blick in die USA
Er spricht damit aus, was die Branchen beim Blick nach China erst verwundert, dann besorgt alarmiert mit ansehen mussten. Und auch die Wirtschaftspolitik der kommenden US-Regierung werde von den Betrieben voller Sorge gesehen, sagt der Konjunkturexperte. Der Blick auf den Binnenmarkt sei auch für ihn voller Fragezeichen. Denn es wird maßgeblich auch vom Konsumverhalten der Schleswig-Holsteiner abhängen, wie es weitergeht, macht der Konjunkturforscher am Ende des Gesprächs deutlich.
Experte: Handeln, nicht resignieren
Insolvenzverwalter Schmid-Sperber steht an den großen Fenstern in seinem Büro am Hafen. Nun bekommt das rege Verladen von Containern und Gastanks am Terminal kurz seine Aufmerksamkeit. Ein Anliegen hat er noch zum Abschluss des Gesprächs: "Wenn man früh eingreift, ist die Krise eines Unternehmens eine Chance. Es kann besser aufgestellt werden." Doch viele Unternehmer kämen erst, wenn es zu spät sei. Dann könne der Betrieb oft nur schwer weitergeführt werden und wird dann abgewickelt.
Der Dominoeffekt einer Insolvenz
Die Folge fasst Schmid-Sperber als Kettenreaktion, als Dominoeffekt zusammen: Der Betrieb fällt dann als Kunde für andere Betriebe aus, hat vielleicht noch Schulden bei anderen Unternehmen. Dieses Geld müssen sie nun abschreiben. Die Zulieferer verlieren einen Kunden. Das Angebot an Dienstleistungen und Gütern schrumpft, Steuereinnahmen sinken, die Arbeitslosigkeit steigt.
Chancen auf passenden Job sinken
Eine Beobachtung gibt der Insolvenzverwalter noch mit auf den Weg: "Wir merken, dass es für freigestelltes Personal immer schwieriger wird, einen adäquaten Job zu finden", sagt Schmid-Sperber, "auch das hat sich verändert". Die Arbeiter unten im Hafen sind beschäftigt. Sprühregen legt sich auf den Fensterscheiben der Bürofenster. Der Blick nach außen wird getrübt. Und auch der Insolvenzverwalter muss nun in einen weiteren Termin.