Tag gegen Gewalt an Frauen: "Ich bin nicht die Einzige"
In Schleswig-Holstein wurden im vergangenen Jahr mehr als 5.000 Fälle von Partnerschaftsgewalt erfasst. Am heutigen internationalen Orange Day - dem Tag gegen Gewalt an Frauen - soll darauf aufmerksam gemacht werden. Jwana Ezat-Salih ist von Gewalt betroffen gewesen, nach Deutschland geflüchtet und erzählt ihre Geschichte.
Was der Orange Day ist, weiß Jwana Ezat-Salih nicht. Und auch ich, Linnéa Kviske, Reporterin beim NDR, kannte ihn ehrlicherweise vor diesem Artikel und Videobeitrag nicht. Aber zum Thema, das der Orange Day beleuchten will, kann Jwana Ezat-Salih viel erzählen.
Sie ist 34, wir sind ungefähr im gleichen Alter. Sie trägt ihre langen braunen Haare offen, dazu eine dickere Jacke, unter der ein weißer Pulli hervorguckt. Der Kragen hat eine geschwungene Öffnung und zeigt rechts ein wenig Haut. Aus ihrer Handtasche holt sie ein Gerät. Es misst permanent ihren Blutdruck, denn Jwana Ezat-Salih hat Herzrasen, Panikattacken, Bluthochdruck. Letzte Woche musste der Krankenwagen zwei Mal kommen, um sie zu stabilisieren: "Die Ärzte sagen, dass das von meiner Psyche kommt."
Wer sich nicht an die Regeln hält, bringt Schande über die Familie
Jwana Ezat-Salih stammt aus dem Irak und hat dort viel Gewalt erlebt. "Es gibt sehr viele Familien, in denen die Frau sich an die Regeln der anderen halten muss, an die Familien-Regeln. Sonst bringt sie Schande über die Familie. Und wenn sie sich nicht an diese Regeln hält, wird sie umgebracht."
Jwana Ezat-Salih durfte sich früher nicht ihre eigene Kleidung aussuchen, sie durfte Haare und Haut nicht zeigen, sie durfte das Haus nicht verlassen, sie durfte die Schule nicht beenden, sie durfte ihre Meinung nicht äußern, sie durfte sich ihren Mann nicht selbst aussuchen, sie durfte der Wahl nicht widersprechen, sie musste physische und psychische Gewalt von ihrer Familie und ihrem Mann ertragen: "Ich konnte mich in meinem Heimatland nicht trennen und musste alles akzeptieren. Denn wenn es Probleme gibt, liegt der Fehler immer bei der Frau. Sie hat Schuld!"
Normaler als wir denken
Jwana Ezat-Salih ist in einer ganz anderen Kultur sozialisiert als ich und während unserer Gespräche ist mir enorm bewusst, wie dankbar ich für mein Aufwachsen sein kann. Ich habe eine tolle Familie und in vielerlei Hinsicht das Gegenteil von Jwana Ezat-Salih erlebt. Ich wurde nie geschlagen, gehe nicht ängstlich durch die Welt und trotzdem lerne ich seit einigen Monaten Krav Maga - eine Selbstverteidigungsart. Denn auch ich war schon drei Mal in Situationen, die mit Pech anders hätten ausgehen können. Das war nicht nur dort, wo Frauen kaum etwas zu sagen haben, sondern zum Beispiel auch in der idyllischen schwedischen Seenlandschaft.
Wenn es hart auf hart kommt, sind wir Frauen den meisten Männern körperlich unterlegen, können uns größtenteils nicht wehren. So einfach ist die Rechnung, wenn man es runterbricht. Mein Ergebnis: Selbstverteidigung, nach der letzten Erfahrung vor ein paar Monaten. Im Zweifelsfall Gewalt mit Gewalt begegnen können. Im Grunde will ich nicht, dass das mein Weg ist, aber es ist mein Eingeständnis, dass ich und andere Frauen bedrohter sind als ich es mir oftmals denke und wünsche.
Und genau darum geht es beim Orange Day: Auf die Gewalt gegen Frauen aufmerksam machen und Wege finden, um die Gewalt zu beenden.
Jwana Ezat-Salih: "Für meinen Sohn"
Jwana Ezat-Salih wurde schwanger, bekam ein Kind und wurde weiter bedroht. Sie suchte im Irak Zuflucht in einem Frauenhaus, war auch dort nicht sicher und entschied sich zu fliehen. In Griechenland hoffte sie fünf Jahre lang auf Asyl, lebte ohne ein Dach über dem Kopf, aß Reste aus dem Müll anderer. "Das Überleben war schwer. Ich hatte einen Sohn, das war nicht einfach. In Griechenland wurde ich traumatisiert, konnte nicht mehr schlafen, bekam Depressionen - alles auf einmal."
Aber ihr Antrag auf Schutz wurde abgelehnt. Und so bestieg sie mit ihrem kleinen Sohn und etwa 30 anderen Menschen ein Boot, das sie drei Nächte und drei Tage über das Meer nach Italien brachte. Von dort kam sie nach Deutschland und hoffte erneut auf Asyl. "Ich habe ein Kind und deswegen kämpfe ich für meinen Sohn. Ich bin jetzt Vater und Mutter für ihn und gebe mein Bestes, damit er eine gute Zukunft hat. Daraus ziehe ich meine Kraft, damit er in Sicherheit und ohne Gewalt aufwächst."
Ein neues Leben
Nach einem Jahr Duldung hat Jwana Ezat-Salih jetzt ein befristetes Aufenthaltsrecht. Der Verein Myriam bietet ihr und anderen geflüchteten Frauen mit Gewalterfahrungen Hilfe an, auch die Dolmetscherin während unserer Gespräche kommt vom Verein. Mit dem Aufenthaltsrecht darf sie jetzt Deutschkurse besuchen und hofft, aus der Flüchtlingsunterkunft in eine eigene Wohnung ziehen zu können. "Es gibt einen großen Unterschied zwischen meinem Heimatland und Deutschland. Hier darf ich selbst entscheiden, was ich anziehe, ich darf zur Schule gehen, ich darf arbeiten. Ich bin sehr dankbar und danke Deutschland, dass ich hier sein kann. Kinder, Frauen, jeder Mensch hat hier seine Rechte. Jeder darf seine eigene Meinung äußern, darf ohne Zwang sprechen. Ich bedanke mich sehr, dass ich hier bin."
Jwana Ezat-Salih und ich treffen uns zwei Mal. Beide Male trägt sie von Kopf bis Fuß dieselbe Kleidung. Mir scheint: Es ist das eine gute Outfit, was sie besitzt. Jwana Ezat-Salih hat hier nicht viel, aber sie ist hier sicher und frei. Und wenn sie von ihrem Sohn erzählt, der die DAZ-Klasse (Deutsch als Zweitsprache) besucht und Freunde gefunden hat, dann verwandelt sich ihr sorgenvoller Blick in ein Lächeln und ich beginne zu merken, was für ein Wesen eigentlich in ihr steckt. Ohne ihre Gewalterfahrungen wäre sie eine freudige Frau.
Wir sind in einem ähnlichen Alter, wäre ich in eine andere Familie oder Gegend hineingeboren, hätte ihre Geschichte meine sein können. Dann wären ihre Gewalterfahrungen meine gewesen.
Hilfsangebote für Betroffene:
- Frauenberatungsstellen Schleswig-Holstein: www.lfsh.de
- Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 08000 11 60 16
- Opfer-Telefon Weißer Ring e.V.: 116 006