Stutthof-Prozess: Nebenklage-Anwalt fordert Freiheitsstrafe
Im Prozess gegen die frühere Sekretärin des KZ Stutthof haben die Anwälte der Geschädigten appelliert, die Angeklagte schuldig zu sprechen und ein gerechtes Strafmaß zu finden. Ein Anwalt forderte eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung.
Gegen 10 Uhr am Montag wird die Angeklagte Irmgard F. in den Sitzungssaal geschoben. Sie trägt eine cremefarbene Mütze - wie immer farblich passend zur Jacke. Die 97 Jahre alte Frau sitzt leicht eingesunken in ihrem Rollstuhl, aber aufrecht genug, um zum 39. Mal die Verhandlung zu verfolgen.
Vorwurf: Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen
Vor dem Landgericht Itzehoe (Kreis Steinburg) geht es seit gut 14 Monaten um die Frage nach ihrer Schuld. Vorgeworfen wird Irmgard F. Beihilfe zum Mord an mehr als 10.000 jüdischen und polnischen Gefangenen im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig, hinzu kommen mehrere Fälle der Beihilfe zum versuchten Mord. Die Vergehen fallen in die Zeit zwischen Sommer 1943 und Frühjahr 1945. Damals war Irmgard F. 18 beziehungsweise 19 Jahre alt und arbeitete als Stenotypistin für den Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe.
Nachdem bereits in der vergangenen Woche sechs Anwälte der Nebenklage ihre Plädoyers vorgetragen haben, konnten am Montag vier weitere Anwälte von Opfern ihre Sicht auf den Prozess und die Angeklagte darlegen. Dass Irmgard F. im Sinne der Anklage schuldig ist, steht für sie und die Staatsanwaltschaft fest. Das habe die Beweisaufnahme hinlänglich bewiesen.
Arbeit in der "Schaltstelle der Mordmaschine"
Die Angeklagte habe sich aus freien Stücken in der Verwaltung des KZ beworben, habe fast zwei Jahre lang in der "Schaltstelle der Mordmaschine" gearbeitet, so Opfer-Anwalt Onur Özata.
Für die Anwälte der Nebenklage besteht kein Zweifel, dass die Angeklagte gewusst hat, welche lebensfeindlichen Bedingungen im Lager herrschten. Sie habe gesehen, dass täglich mehrere Tausend Gefangene im Lager ankamen und viele Tausend wiederum deportiert wurden. Die für den reibungslosen Ablauf wichtigen Tötungs- oder Deportationslisten seien durch die Hände der Angeklagten gegangen. Der Gestank aus dem Krematorium, so berichteten alle Überlebenden, sei bestialisch gewesen - die Angeklagte habe das ebenfalls riechen müssen, sagen die Nebenklage-Vertreter.
Es sei makaber, dass die Angeklagte behaupte, sich nur an die Bestellung von Gartenbedarf erinnern zu können, sagte Anwalt Markus Horstmann in seinem Plädoyer in der vergangenen Woche. Irmgard F. hatte dies in einer Befragung durch einen Staatsanwalt 2017 einmal angegeben.
Sind zwei Jahre Jugendstrafe auf Bewährung gerecht?
Die Staatsanwältin Maxi Wantzen hatte für die Angeklagte eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren nach Jugendstrafrecht gefordert. Die Strafe könne zur Bewährung ausgesetzt werden. Zwei Jahre sind im Jugendstrafrecht die höchstmögliche Strafe, die zur Bewährung ausgesetzt werden kann.
Für Nebenklage-Anwalt Günther Feld ist die Forderung nach einer zweijährigen Jugendstrafe auf Bewährung grundsätzlich richtig. Nach seiner Überzeugung "wird keine Strafe dem gerecht, was in Stutthof passiert."
Hans-Jürgen Förster, der vier Überlebende des KZ Stutthof vertritt, betonte, es gehe vor allem um den Schuldspruch und weniger um das Strafmaß. Im Sinne der Überlebenden, der gut 30 Nebenklägerinnen und Nebenkläger, die er und die anderen Anwälte in diesem Prozess vertreten, sei es vor allem wichtig, dass Irmgard F. als Helferin des nationalsozialistischen Mordsystems durch ein deutsches Gericht schuldig gesprochen werde. Es gehe um "Genugtuung, die Intention der Nebenklage schlechthin", so Förster.
Nebenklage-Anwalt: Bewährung ist falsches Signal
Aber nicht alle Anwältinnen und Anwälte sind einverstanden mit dem von der Staatsanwaltschaft beantragten Strafmaß. Aus Sicht von Christoph Rückel ist eine Strafaussetzung zur Bewährung ein falsches Signal. In seinem Plädoyer sagte er dazu: "Wir können es nicht verantworten, dass eine Tat wie die der Angeklagten [...] noch zur Bewährung ausgesetzt wird. Eine Strafaussetzung zur Bewährung gibt der Öffentlichkeit das Signal, dass langes Zuwarten der Justiz sich positiv auszahlt." Das könne nicht sein.
Anwalt Onur Özata machte in seinem Plädoyer darauf aufmerksam, dass auch heute noch Rechtsradikale sowie die AfD im Bundestag den "Blick auf die Vergangenheit trüben und verwischen" und damit "das Menschheitsverbrechen der Shoah vergessen machen" wollen. "Wer die alten Verbrechen aus der Erinnerung tilgen will, ebnet neuen den Weg."
Durch Flucht der Justiz entzogen
Zu berücksichtigen sei auch, so argumentierten einige Anwältinnen und Anwälte der Nebenklage, dass sich Irmgard F. am ersten Verhandlungstag am 30. September 2021 durch Flucht der Justiz entzogen habe. Nachdem sie an der Grenze zu Hamburg aufgegriffen worden war, habe sie gegenüber dem Haftrichter gesagt, sie würde es immer wieder tun. Sie habe sich gefreut, dass alle ihretwegen lange Gesichter gemacht hätten. Dieses Verhalten zeige eine gewisse Rücksichtslosigkeit, die bei der Urteilsfindung zu beachten sei, sagte Opfer-Anwalt Christoph Rückel.
Das hohe Alter der Angeklagten dürfe dagegen keine Rolle spielen, argumentierte Hans-Jürgen Förster in seinem Plädoyer. Er erinnerte daran, "die individuelle Schuld, die Schwere der Tat und die persönliche Verantwortung, das Maß der Schuld also, ist von Gesetzes wegen Grundlage für die Zumessung der Schuld." Gleichzeitig sei aber der lange Zeitraum seit den Taten zu berücksichtigen. Irmgard F. habe sich seitdem nicht strafbar gemacht und sie sei als 97 Jahre alte Frau besonders strafempfindlich. Die "monströse Anzahl der Morde" müsse aber "beherrschendes Strafzumessungskriterium" sein.
Urteil noch im Dezember erwartet
Am Dienstag wird der Prozess mit dem Plädoyer der Verteidigung fortgesetzt. Es ist davon auszugehen, dass Verteidiger Wolf Molkentin einen Freispruch fordern wird. Dann hat die Angeklagte das letzte Wort. Das Urteil wird der vorsitzende Richter voraussichtlich am 20. Dezember sprechen.