Seegras: Warum Kieler Forscherinnen den Meeresboden "impfen"
Jahrzehntelang ist an der Kieler Förde kein Seegras gewachsen. Jetzt kehren die Pflanzen langsam zurück. Forscherinnen wollen das mit einer neuen Methode beschleunigen. Sie könnte wegweisend sein.
Ist von neu erforschten Impfstoffen die Rede, weckt das bei vielen wohl zuallererst Pandemie-Erinnerungen. In der Kieler Förde sollen solche Stoffe aber nicht vor Krankheiten schützen, sondern vor dem Klimawandel. Und die Wissenschaftlerinnen des Geomar-Instituts wollen heute auch keine Menschen "impfen", sondern den Meeresboden der Ostsee. Spritzen hat Meeresbiologin Jana Willim trotzdem dabei. Darin: jede Menge Seegras-Samen.
Seegras kehrt zurück nach Kiel
"In den vergangenen Jahrzehnten gab es einen drastischen Rückgang der Seegraswiesen von rund 60 Prozent - vor allem aufgrund von erhöhten Nährstoffeinträgen, wie beispielsweise Stickstoff und Phospor, also Produkte der Überdüngung von der Landwirtschaft. Wegen dieser Einträge ist die Wasserqualität schlechter geworden, und es ist einfach zu wenig Licht für die Pflanzen am Meeresboden angekommen", erklärt Willim auf dem Schlauchboot, das gerade vom Aquarium des Geomar-Instituts an der Kiellinie abgelegt hat. Die 28-jährige Meeresbiologin forscht seit Jahren zu den Pflanzen, die Wissenschaftler liebevoll auch als "Moore des Meeres" bezeichnen. Seegras ist nämlich ein wertvoller CO2-Speicher. Unter dem Boden der Schleswig-Holsteinischen Ostsee absorbieren sie mehrere Megatonnen davon.
Die gute Nachricht: Es wächst wieder Seegras an der Kieler Förde, weil sich die Wasserqualität in den vergangenen Jahren laut Willim verbessert hat. Kleine Seegraswiesen gibt es am Kieler Kraftwerk, am Ostufer und bei der Seebar, wo das Geomar-Schlauchboot nun nach zehnminütiger Fahrt den Anker setzt.
Renaturieren, aber wie?
"Es dringt wieder mehr Licht bis zum Boden, deswegen breitet sich das Seegras auch wieder von alleine aus - aber sehr, sehr langsam. Da wollen wir nachhelfen und Seegras renaturieren", erklärt Willim. Weil das Aus- und Wiedereinpflanzen von erwachsenen Seegras-Populationen unter Wasser extrem aufwendig ist, forschen die Wissenschaftlerinnen nach neuen Methoden. "Hintergrund ist natürlich, dass wir zukünftig auf viel größeren Flächen renaturieren wollen - hektarweise. Das müssen wir über Samen machen. Ein Weizenfeld sät man ja auch aus und nimmt keine Stecklinge", sagt Prof. Thorsten Reusch, der die Taucherinnen als Einsatzleiter begleitet.
Tauchgang bei fünf Grad Celsius
Um herauszufinden, wie diese Samen am besten keimen können, lässt sich Jana Willim bei 5 Grad Wassertemperatur vom Schlauchboot in die Kieler Förde fallen. Auf dem Meeresgrund der eiskalten Ostsee sieht Willim bei diesem Tauchgang bereits tatsächlich einige zarte Seegras-Pflänzchen, allerdings noch nicht in Massen und nicht viel länger als 10 Zentimeter. Aber: Sie sind wieder da. Miriam Merk begleitet Willim unter Wasser und filmt den Einsatz. Merk schreibt eine Bachelorarbeit über das Verfahren, zu dem sie nun zum ersten Mal in der Praxis forschen.
Erste Anhaltspunkte in vier Wochen
Die Plastikspritze, mit der Willim unter Wasser hantiert, ist etwa 20 Zentimeter lang. In mehreren Versuchsfeldern steckt sie die Spitze unterschiedlich tief ins Sediment. Mit sogenannten Zählrahmen ist das Forschungsgebiet genau abgesteckt - alles soll genau dokumentiert werden. Die Wassertiefe beträgt hier knapp eineinhalb Meter. "Wir erwarten, dass etwa nach vier Wochen die ersten Keimlinge entstehen. Das heißt, wir werden die Stellen dann wieder besuchen, um zu schauen, wie viele Keimlinge dann wirklich sprießen", sagt Willim. Wenn klar sei, welche Einpflanz-Tiefe die vorteilshafteste sei und welche zusätzlichen Bestandteile den Samen am besten beim Wachsen helfen, wollen die Wissenschaftlerinnen großflächig testen. Parallel dazu laufen Tests in Aquarien. Und: "Wenn das so funktioniert, wie wir uns das vorstellen, könnte man auf lange Sicht eine Maschine entwickeln, die die Seegras-Samen großflächig säen kann", sagt Miriam Merk.
Forschung noch ganz am Anfang
Zur Renaturierung von Seegras mit Samen forschen Wissenschaftlerinnen derzeit auch über das Kieler Geomar-Institut hinaus, zum Beispiel in Dänemark oder den Niederlanden. Der Ansatz, die Samen mit einer Spritze und einer zugemischten Substanz im Sediment zu verteilen, ist laut Willim aber neu. Bis die Methode flächendeckend in der Praxis zum Einsatz kommen kann, würden aber noch Jahre ins Land ziehen, sagt Thorsten Reusch. "Wir müssen ganz klein anfangen, es gibt ganz grundsätzliche Sachen der Keimlingsbiologie, die wir noch nicht kennen. Darum hat sich noch nie jemand gekümmert. Wir hoffen aber, dass wir in fünf oder sechs Jahren soweit sind, dass wir das Seegras hektarweise aussäen können.“