Rädchen in der Todesmaschinerie: Prozess gegen KZ-Sekretärin
Vor dem Landgericht in Itzehoe sollte am Donnerstag der Prozess gegen eine mutmaßliche NS-Täterin beginnen. Der 96-jährigen ehemaligen Sekretärin wird Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen vorgeworfen. Die Frau flüchtete am Morgen, ist inzwischen aber wieder aufgefunden worden.
Von Elisabeth Weydt und Jörg Jacobsen
Es ist eine große graue Industriehalle direkt am Flüsschen Stör in Itzehoe (Kreis Steinburg). Früher wurden hier mal Zeitschriften und Zeitungen gedruckt, jetzt nutzen eigentlich Logistikfirmen das Gelände. Im Minutentakt rollen schwere Lastwagen an die Laderampen. An einem kleinen Seiteneingang der Halle N steht seit ein paar Tagen "Landgericht Itzehoe" an der Tür. Im ersten Stockwerk wurde ein Gerichtssaal eingebaut - für einen der aufwendigsten Prozesse in Schleswig-Holstein seit Jahren. Hier muss sich die ehemalige Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof verantworten. Es ist das erste Mal, dass einer zivilen Angestellten eines Vernichtungslagers der Nationalsozialisten der Prozess gemacht wird. Irmgard F. war damals 18, später 19 Jahre alt. Heute ist sie 96 und lebt in einem Seniorenstift in Quickborn (Kreis Pinneberg). Sie ist angeklagt, Beihilfe zum Mord in 11.370 vollendeten Fällen und 7 versuchten Fällen geleistet zu haben. Die 96-Jährige war am Donnerstagmorgen vor Prozessbeginn allerdings nach Angaben des Gerichts nicht mehr auffindbar. Nachdem Haftbefehl erlassen wurde, konnte die Frau gegen Mittag gefasst werden. Die Hafttauglichkeit wird nun geprüft. Der Prozess soll am 19.10 mit der Anklageverlesung fortgesetzt werden.
Nebenkläger: "Opfern Gelegenheit geben, ihre Geschichten zu erzählen"
Vier Tischreihen in dem provisorisch eingerichteten Gerichtssaal sind alleine für die Nebenkläger reserviert. Dort wird auch Onur Özata Platz nehmen. Der Anwalt vertritt Überlebende und Angehörige von Getöteten, die im Konzentrationslager Stutthof waren. Özata selbst war schon Anwalt im NSU-Prozess und im Prozess um den rechtsextremistischen Anschlag im Münchner Olympia-Zentrum 2016. Der Stutthof-Prozess jetzt hat für ihn noch einmal eine besondere Bedeutung, sagt er. Viele Jahrzehnte seien so viele Prozesse gegen Beteiligte der Naziverbrechen verschleppt worden. Mit allen möglichen juristischen Tricks habe man versucht, die mutmaßlichen Täter davon kommen zu lassen. Die Strafverfolgung sei regelrecht hintertrieben worden. "Umso mehr ist es zu begrüßen, dass wenigstens jetzt versucht wird, hier Strafverfolgung zu betreiben. Und dass den letzten überlebenden Zeugen, den Betroffenen, den Opfern Gelegenheit gegeben wird, Zeugnis abzulegen vor einem deutschen Gericht und ihre Geschichten zu erzählen."
Beihilfe-Prozesse erst seit zehn Jahren
Erst seit 2011, seit dem sogenannten Demjanjuk-Fall, gibt es auch Prozesse wegen Beihilfe und nicht ausschließlich wegen Mord im Zusammenhang mit den NS-Verbrechen des Dritten Reichs. Rein juristisch wäre das schon vorher möglich gewesen. Im Fall von 2011 aber wurden die Gesetze erstmalig so interpretiert, dass auch ein Mitläufer, ein Mittäter, wie eben der Wachmann Demjanjuk, sich seiner Verantwortung im Holocaust stellen musste. Nun also eine Sekretärin. Für Onur Özata ist Irmgard F.s Fall ein weiterer Präzedenzfall. "Die Wahrheit ist nämlich, dass es nicht nur einige wenige Haupttäter gab, sondern viele, viele Helferinnen und Helfershelfer, die den Holocaust ermöglicht haben, den Massenmord, den Völkermord in den Konzentrationslagern." Darüber müsse gesprochen werden. Seine Mandantinnen und Mandanten begrüßten, dass es dazu nun endlich einen Prozess gebe.
Historiker: "Es fehlte vielfach ein wirklicher Ahndungswille"
In Stutthof, 40 Kilometer östlich von Danzig im heutigen Polen, wurden mindestens 65.000 Menschen ermordet, sind verhungert, erfroren oder an Erschöpfung gestorben. Irmgard F. war Schreibkraft für den Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe. Über ihren Tisch gingen viele wichtige Dokumente. Sie war Teil eines großen Ganzen, sagt Jens-Christian Wagner, Historiker und der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald. "Geschichte geschieht nicht einfach, sondern Geschichte und damit auch NS-Verbrechen sind immer die Folge von konkreten Entscheidungen, die individuell Menschen treffen müssen", sagt Wagner. "Auch eine Sekretärin musste Entscheidungen treffen, nämlich ob sie mitmacht oder ob sie nicht mitmacht. Wir alle - auch in Verwaltungshandlungen - sind gewissermaßen kleine Rädchen im System und das muss uns bewusst werden."
So ein Prozess sei wichtig, um sich diese Zusammenhänge als Gesellschaft vor Augen zu führen, sagt Jens-Christian Wagner. Doch die meisten Täter seien mittlerweile verstorben, genauso die Opfer und die Zeugen. Die justizielle Aufarbeitung der NS-Verbrechen sei verschleppt worden, sagt auch er. "Es fehlte vielfach ein wirklicher Ahndungswille, was kein Wunder ist, weil viele Juristen NS-belastet gewesen sind."
Staatsanwaltschaft ermittelte vier Jahre lang
Nebenklage-Anwalt Özata und andere werfen der Staatsanwaltschaft Itzehoe vor, dass das Ermittlungsverfahren länger gedauert habe als nötig. Dass der Prozess nun vielleicht gar nicht zu Ende geführt werden könne, weil die Angeklagte mit ihren 96 Jahren schon so betagt sei. Mehr als vier Jahre dauerten die Ermittlungen. Das Gerichtsverfahren ist für weitere neun Monate angesetzt.
Auf Anfrage von NDR Info schreibt die Staatsanwaltschaft Itzehoe, es habe sich schließlich um außergewöhnliche, komplexe Ermittlungen gehandelt. "Diese richteten sich sozusagen in die Vergangenheit. Umfangreiche Unterlagen und Dokumente aus dem Konzentrationslager Stutthof sind ausgewertet worden, zeugenschaftliche Vernehmungen von Überlebenden des Lagers sind in Deutschland und in den USA und Israel durchgeführt worden", heißt es in der Antwort der Staatsanwaltschaft.
Verteidiger hält Prozess grundsätzlich für sinnvoll
Dementsprechend grausam liest sich die Anklageschrift gegen Irmgard F.. Darin werden Szenen unendlicher Unmenschlichkeiten beschrieben. Das sieht auch ihr Verteidiger Wolf Molkentin aus Kiel so. Ob die ehemalige Sekretärin allerdings so genau über diese Gräueltaten Bescheid wusste, gelte es nun im Verfahren zu klären. Es handle sich in der Tat um grausame Mordtaten, "worüber man sich erschrecken muss auch wenn man schon im Grundsatz all diese Dinge kennt". Doch die entscheidende Frage hier im Prozess sei ja nun, welche strafrechtliche Verantwortung eine Schreibkraft bei diesen Verbrechen getragen haben kann.
Wolf Molkentin selbst hält den Prozess grundsätzlich für angebracht und sinnvoll, sagt er. Deswegen sehe er seine Aufgabe als Verteidiger hierbei auch nicht darin, das Prozedere aufzuhalten, sondern weiter für Aufklärung zu sorgen. "Skandalös finde ich vielmehr die Versäumnisse der ganzen letzten Jahre und Jahrzehnte. Man hätte sich diese Fragen früher stellen sollen, und nun schaut man sich die Sekretärin an." So ein Verfahren in einem so hohen Alter über sich ergehen zu lassen, sei sicher nicht leicht. Aber: "Die Versäumnisse der Vergangenheit, die waren so wie sie sind, und jetzt gilt: besser spät als nie."
Nebenklage-Anwalt: Wichtiger Schritt, um aus Vergangenheit zu lernen
Wenn man sich nun mit den kleinen Rädchen in der Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten auseinandersetze, dann müsse man sich vor allem eine Frage stellen, sagt Nebenklage-Anwalt Onur Özata: "Woher kommt das? Wie konnte es soweit kommen?" Darauf werde man wahrscheinlich erst einmal keine Antwort finden. "Weil es so unvorstellbar ist, was Menschen Menschen antun können, aber natürlich muss man dann weiter fragen." Er möchte zum Beispiel wissen, unter welchen Bedingungen das alles hat stattfinden können. "Dann wird man natürlich zwangsläufig beim Rassismus landen, beim Antisemitismus und bei bestimmten Ideologien, die heute ja auch noch vertreten werden."
Der Prozess im Gewerbegebiet von Itzehoe kann aus Sicht von Anwalt Onur Özata nun ein weiterer wichtiger Schritt sein, um aus der Vergangenheit zu lernen, um auch als Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen.