Plötzlich kein Kontakt mehr: Wenn Kinder ihre Eltern verlassen
Für die Eltern ist der plötzliche Kontaktabbruch ein Schock, für deren Kinder ist es meist eine lange überlegte Entscheidung. Wie eine Mutter mit dem langjährigen Kontaktverlust umgeht und wie sie trotzdem neuen Lebensmut fasst.
Ein Familienleben ist nicht immer harmonisch - Zank mit den Geschwistern, der Streit mit dem Partner oder der Partnerin und gerade in der Jugend sind Auseinandersetzungen mit den Eltern oft programmiert. Den Kontakt zu seinen Familienmitgliedern komplett abzubrechen, ist für die allermeisten wohl aber keine Option.
Über 20 Jahre kein Kontakt zu den Kindern
Frauke Jochimsen aus Süderbrarup (Kreis Schleswig-Flensburg) wünscht sich nichts sehnlicher, als mit ihren Kindern gemeinsam essen zu gehen oder einen Kaffee zu trinken. "Man wird älter, man überlegt viel. Ich wünsche mir schon mal, meine Kinder in meiner Nähe zu haben."
Insgesamt hat sie drei Kinder und sieben Enkelkinder. Seit mehr als 20 Jahren hat sie teilweise nur spärlichen Kontakt zu ihnen. Angefangen hat es 2004. Da kam der erste Enkel auf die Welt. Was der Auslöser für die Kontaktprobleme war, kann sie sich bis heute nicht erklären. Auf die Frage "Warum?" hat sie nie eine Antwort bekommen.
"Es ist schwer. Aber das sind meine Kinder und ich würde auch so gerne wieder für meine Kinder da sein." Frauke Jochimsen
Das Verhältnis zu ihren Kindern war vorher immer gut, sagt Frauke Jochimsen. Vor allem zu ihrem Sohn. Dann ist er ausgezogen, hat geheiratet und dann ist da irgendwas passiert, was sie sich nicht erklären kann.
Partnerschaft: Da mischen Eltern besser nicht mit
Neben vielen anderen Gründen sind auch häufig neue Partner im Leben der Kinder ein Grund für Kontaktabbruch, beobachtet die Heilpraktikerin für Psychotherapie Brigitte Göbel. Zu ihr in die Praxis nach Pinneberg (Kreis Pinneberg) kommen betroffene Eltern und Kinder aus ganz Deutschland. "Manchmal ist es auch so, dass Kinder durch ihren Partner dann sehen, wie Familie auch sein kann."
Oft ist das dann ein Abgrenzungsthema, so Göbel. Die Mutter mischt sich beispielsweise zu sehr in die Partnerschaft und Lebensweise ein und die Partnerin setzt Grenzen. Wenn der Sohn dann möglicherweise Probleme hat, der Mutter eine Ansage zu machen oder sich klar zu positionieren, ist der Kontaktabbruch für ihn die mögliche Bewältigungsstrategie, beobachtet Göbel.
Gründe für den Kontaktabbruch sind vielfältig
Wenn Kinder sich dazu entscheiden, den Kontakt zu ihren Eltern abzubrechen, dann kann das viele Beweggründe haben. Es gibt nicht den einen Grund, sagt Brigitte Göbel. In ihrer Praxis beobachtet sie allerdings das Thema "Überbehütung und Überliebe der Eltern" als häufiges Phänomen. Stichwort: Helikoptereltern. So genießt es das eine Kind beispielsweise, dauerhaft von seinen Eltern behütet zu werden. Das andere Kind fühlt sich dadurch bedrängt, wie in ein Gefängnis eingesperrt, und hat das Gefühl nicht selbstständig erwachsen werden zu können.
Andere Gründe für den Kontaktabbruch durch die Kinder sind der Therapeutin zufolge beispielsweise, dass persönliche Grenzen von den Eltern nicht beachtet werden, man sich nicht verstanden und gut aufgehoben in der Familie fühlt, zu hohe und überfordernde Erwartungen gestellt werden oder das Gefühl vorherrscht, nur für Leistungen geliebt und wertgeschätzt zu werden.
"Trotz allem wünscht man sich eine harmonische Familie"
Wenn Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen, ist das niemals eine spontane oder leichtfertige Entscheidung, so Göbel. Der Kontaktabbruch sei immer eine Entscheidung aus der Not und nicht, weil die Eltern lästig werden oder man sie nicht mehr braucht. Laut der Expertin steht vor der Entscheidung meistens schon ein langer Leidensweg, der von den Eltern nicht unbedingt gesehen wurde.
"Vielen Kindern geht es durch den Kontaktabbruch besser. Trotzdem sind sie nicht glücklich. Jeder würde auch gerne einen guten Kontakt mit seinen Eltern haben." Brigitte Göbel, Heilprakterin für Psychotherapie
"Ich habe auch ein Leben für mich"
Guten Kontakt zu ihren Kindern - das ist der innigste Wunsch von Frauke Jochimsen, die seit über 20 Jahren mit der Funkstille zu ihren Kindern kämpft. Wichtig für sie war, sich frühzeitig in Therapie zu begeben, mit anderen darüber zu sprechen - vor allem mit ihrer besten Freundin und ihrer selbst gegründeten Selbsthilfegruppe für verlassene Eltern in Schleswig. Sie hat das Thema nicht verdrängt. Dadurch hat sie neuen Lebensmut finden können.
"Ich halte das jetzt ganz einfach mittlerweile. Da ich mein Leben habe - und ich habe mein Leben jetzt ganz fest im Griff - sage ich mir, ich habe auch das Recht zu leben. Meine Kinder haben ein Recht, aber die Mutter auch." Frauke Jochimsen
Natürlich war der Kontaktabbruch vorher für sie mit Scham behaftet - in der Öffentlichkeit darüber reden schwierig. Oft kamen indirekte Vorwürfe: "Du musst doch irgendwas getan haben?" Wenn sie gemeinsam mit ihren Kindern woanders zu Bekannten eingeladen war, hat sie zu Beginn immer für ihre Kinder gelogen, dass diese beispielsweise terminlich verhindert sind und deshalb nicht dabei sein können. Die Scham zu überwinden, dauert, ist aber einer der wichtigsten Schritte auf dem Weg zum Seelenfrieden, so Jochimsen.
Kontaktabbrüche sind nicht für die Ewigkeit
Seit einigen Jahren hat Frauke Jochimsen auch wieder ab und zu Kontakt zu ihren Töchtern und den Enkelkindern. Sie nähern sich langsam an, alles in Maßen, aber das macht sie glücklich. Jedoch sagt sie, dass man nicht ewig darauf warten kann - man müsse selbst aktiv werden und den Kindern ihren Freiraum lassen. "Mein Leben ist jetzt wichtig geworden." Das bestätigt auch Brigitte Göbel mit ihren Erfahrungen aus der Praxis.
"Wenn man immer wieder auf die Menschen zugeht, die gar nichts mit mir zu tun haben wollen, ist auch das an irgendeinem Punkt wieder etwas übergriffig und respektlos, weil man die Entscheidung des anderen nicht respektiert." Brigitte Göbel, Heilprakterin für Psychotherapie
Sie empfiehlt Eltern oft, in einer Art letzten Brief zu kommunizieren, dass die Tür für die Kinder immer offen steht. Mit dem Brief sollten Eltern deutlich machen, dass ihnen das Kind fehlt, man offen für ein Gespräch ist, aber das Kind in seinen weiteren Entscheidungen den Freiraum gibt und in Ruhe lässt.
Auch nach vielen Jahren der Funkstille sagt Frauke Jochimsen weiterhin: "Meine Tür ist offen für meine Kinder."