Warum auch Pflegefamilien normale Familien sind

Stand: 30.11.2023 11:40 Uhr

Eine Großfamilie soll es sein, das war für Antje Wilcken-Timm und Christian Wilcken von Anfang an klar. Dass die beiden 22 Jahre später zwölf Pflegekinder vorübergehend, drei davon dauerhaft, bei sich aufgenommen hatten - das war aber alles andere als geplant.

von Laura Albus

Das Ehepaar Wilcken engagiert sich als Pflegeeltern, und das mit Leib und Seele. Sie wohnen mitten in Heide (Kreis Dithmarschen), haben das Haus mit zehn Zimmern in jahrelanger Arbeit saniert. Heute wohnen sie mit fünf ihrer sechs Kinder dort. Die Älteste, Lea, ist bereits ausgezogen. Lea (23), Ben (19) und Oke (16) sind leibliche Kinder der Wilckens. Kim (12), Noah (9) und Miriam (2) (Name geändert) sind Pflegekinder. Was für einige unvorstellbar klingt - für die Familie ist es normal.

"Das hier ist meine Familie." Kim, 12 Jahre alt

Kim ist zwölf Jahre alt und sitzt in ihrem Kinderzimmer am Schreibtisch. Vor ihr ausgebreitet: das Mathebuch. Eine Klausur steht an, auf die sie sich noch vorbereiten möchte. Viele Fotos und Poster von Pferden zieren Wände und Schränke. Sie ist aufgeweckt, spielt Handball im Verein, und ist eine ganz normale Zwölfjährige. Aber wenn sie sagt: "Ich habe keinen Kontakt zu meinen leiblichen Eltern und das möchte ich auch nicht, weil das hier meine Familie ist" - dann wirkt dieser Satz erst einmal alles andere als normal. Doch aus der Perspektive von Kim ist er eben genau das. Sie ist so aufgewachsen. Lebt bei den Wilckens, seit sie ein kleines Baby war. Spricht mit Antje und Christian als Mama und Papa. Und hat sogar seit einiger Zeit den Familiennamen angenommen. Was für Außenstehende besonders erscheinen kann - in ihrer Familie wird sie nicht hinterfragt.

Die gesamte Familie muss dahinter stehen

Drei Personen sitzen auf einem Sofa. © NDR Foto: NDR
Der 16-jährige Oke mit seinen jüngeren Geschwistern Kim und Noah - eine ganz normale Familie.

Laut einer unvollständigen Abfrage bei den Kreisen und kreisfreien Städten leben derzeit mindestens 1957 Kinder und Jugendliche in Schleswig-Holstein in Pflegefamilien. Im Kreis Rendsburg-Eckernförde beispielsweise sind es 342 Kinder und Jugendliche, die in 271 Pflegefamilien untergebracht sind. Das bedeutet auch: Viele Pflegefamilien nehmen mehr als ein Kind bei sich auf. Und vor allem diese Pflegefamilien sind eine wichtige Stütze in der Gesellschaft, um Kindern ein normales Aufwachsen zu ermöglichen.

Janet Niederheide vom Jugendamt im Kreis Dithmarschen kümmert sich um die Weiterbildung von Pflegeeltern. Ihrer Einschätzung zufolge ist es häufig ein bestimmter Typ Mensch, der Pflegekinder zu Hause aufnimmt: Hilfsbereit, empathisch, anpackend, oft ohne eine hemmende Scheu vor möglichen Fehlern. Der Ablauf, bis ein Paar - egal ob hetero- oder homosexuell - oder auch eine alleinstehende Person ein Pflegekind bei sich aufnehmen kann, ist im Kreis Dithmarschen exakt geregelt. Ein erster Kontakt zum Jugendamt, bei dem sich beide Seiten kennenlernen und informieren. Gefolgt von sechs Modulen, die die Pflegeeltern absolvieren müssen, darunter auch ein Erste-Hilfe-Kurs für Kinder. Und: eine häusliche Überprüfung. Die diene in erster Linie dazu, mögliche Konflikte mit bereits in der Familie lebenden Kindern zu erkennen. Für Janet Niederheide ist klar: "Die gesamte Familie muss dahinter stehen."

Eine ganz normale Familie

Der 16-jährige Oke steht hinter seiner Familie, auch wenn er manchmal anfangs skeptisch sei, ein neues Pflegekind aufzunehmen: "Meistens schließt man sie aber doch schnell ins Herz." Und dann ist Pflegebruder Noah einfach der ganz normale kleine Bruder, mit dem er gemeinsam auf dem Trampolin tobt und der ihn am kommenden Tag nervt. Für Oke ist seine Familie vor allem eines: normal. Und deshalb kann er sich sogar möglicherweise einmal vorstellen, selbst Pflegekinder aufzunehmen.

Der Wocheneinkauf fällt deutlich größer aus

Dem Ehepaar Wilcken ist es wichtig, nichts zu beschönigen. Auch bei ihnen gebe es hin und wieder Streit, Konflikte, Diskussionen. Aber wie auch in anderen Familien sei es wichtig, aufrichtiges Interesse an den Kindern zu haben. Familienvater Christian Wilcken kennt und schätzt den hohen Zuspruch, den seine Familie von außen bekomme, doch "viele können es sich selbst nicht vorstellen, bekommen es nicht in ihren Alltag integriert". Denn auch das gehört dazu - ein Pflegekind braucht wie alle Kinder vor allem in den ersten gemeinsamen Monaten viel Zeit, Liebe und Aufmerksamkeit. Neben Zuspruch gebe es aber auch immer wieder sehr kritische oder abfällige Blicke, zum Beispiel, wenn die Familie gemeinsam in den Urlaub fahre oder der klassische Wocheneinkauf deutlich größer ausfalle, als in einigen anderen Familien. Antje Wilcken-Timm sagt: "Auch damit muss man umgehen können."

Zwei Personen stehen in einem Garten. © NDR Foto: NDR
Das Ehepaar Wilcken hat sich immer eine Großfamilie gewünscht.
Bedarf an Pflegefamilien ist hoch

Der Bedarf an Familien wie den Wilckens, er ist gleichbleibend hoch, heißt es von den zuständigen Jugendämtern. Dennoch gibt es regional einige Besonderheiten, was den Bedarf betrifft. Im Kreis Pinneberg beispielsweise sei es auffällig, "dass es schwierig ist, Geschwister gemeinsam zu vermitteln." Der Bedarf der Kinder sei meistens sehr hoch, doch nur wenige Pflegestellen würden sich zutrauen, direkt zwei Kinder aufzunehmen.

Der Kreis Plön teilt mit, dass es zunehmend Kinder "mit belastenden biografischen Vorbedingungen, zum Beispiel traumatisches Erleben durch häusliche Gewalt, seelische Verwahrlosung oder Folgen von Suchterkrankungen der Eltern" gebe. Das führe bei den Kindern mitunter zu erheblichen Problemen bei der Betreuung, die in Pflegefamilien - die ja in der Regel keine ausgebildeten Fachkräfte sind - nicht immer in ausreichendem Maße geleistet werden kann. Dann müsse "in wenigen Einzelfällen eine Unterbringung in geeigneten Einrichtungen erfolgen."

Manchmal passt es nicht

Auch das kennen die Wilckens. Sie haben sich als Familie vor einiger Zeit dazu entschieden, ein Pflegekind wieder abzugeben. Nicht aus mangelnder Liebe oder Mühe, sondern schlichtweg, weil es nicht funktioniert hat. Im gesamten Prozess habe sie sich aber gut vom Jugendamt Dithmarschen betreut gefühlt, sagt Antje Wilcken-Timm. Beide Elternteile hoffen, dass sich in der Region mehr Menschen finden, die sich zutrauen, Pflegekinder in ihren Familien aufzunehmen.

Wer kann ein Pflegekind aufnehmen?

Die Entscheidung liegt bei den jeweiligen Jugendämtern, die den Landkreisen und kreisfreien Städten zugeordnet sind. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um ein Ehepaar, um Alleinlebende, ledige oder in Lebensgemeinschaft lebende handelt. Grundvoraussetzung ist die Bereitschaft, einem oder mehreren Kindern Geborgenheit und Liebe geben zu können.

Dieses Thema im Programm:

Nachrichten für Schleswig-Holstein | 29.11.2023 | 19:30 Uhr

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