Pflegekind Florian: "Die Pflegefamilie war meine Rettung"
Da er bei seinen leiblichen Eltern Gewalt und Vernachlässigung erlebt, will Florian zu Hause raus. Der Fachdienst Jugend im Kreis Pinneberg reagiert, er kommt in eine Pflegefamilie - ein Schritt mit positiven Auswirkungen auf sein Leben.
Als Florian acht Jahre alt ist, weiß er: "Ich will weg von meinen Eltern." Dort erlebt er Vernachlässigung, Gewalt und Gleichgültigkeit - so kann er das heute erzählen, mit Mitte 20. Damals nimmt ihn das Jugendamt in Obhut. Florian kommt ins Schutzhaus, zu einem Bereitschaftspfleger und dann in eine Pflegefamilie. Seine Geschichte zeigt, dass es viele Menschen braucht, um Kinder wie ihn aufzufangen und zu unterstützen, damit sie trotz extrem schlechter Startbedingungen zu einem zufriedenen Menschen werden können.
Florian: "Ich wusste, ich muss da raus"
"Sie haben meine Bedürfnisse nie gesehen", sagt Florian über seine leiblichen Eltern. "Ich wusste, ich muss da raus." Heute sitzt er in der S-Bahn Richtung Pinneberg. Er will seinen Bereitschaftspflege-Vater Achim besuchen und danach seine Pflegefamilie. Vor zwei Jahren ist er ausgezogen - erster Job, erste eigene Wohnung, nicht mehr in Schleswig-Holstein. Er arbeitet in einem Stellwerk im Schichtbetrieb. Auch das wusste er schon früh, sagt er: Bei der Deutschen Bahn will er arbeiten. Es braucht nicht lange, um zu merken: Florian scheint ein willensstarker Mensch zu sein.
Ein Pflegekind aufnehmen: Zuhause auf Zeit
Bei Achim lebt Florian nach seiner Inobhutnahme acht Monate lang. Als der ihn damals im Schutzhaus abholt, sitzt er in der Zimmerecke und spielt mit Playmobil. Die Familienhelferin ist dabei. Florian ist einsilbig. "Er war total eingeschüchtert", erinnert sich Bereitschaftspfleger Achim. Florian erklärt, warum: "Ich war sehr aufgeregt, aber irgendwie habe ich gespürt, dass das, was da jetzt passiert, schon seine Richtigkeit hat. Das ist gut so."
Achim geht mit Florian zunächst in einen Supermarkt einkaufen - und zwar das, was Florian mag. So etwas habe er bis dahin noch nie erlebt, sagt der junge Mann. "Da ging mir das Herz auf. Da bin ich ihm heute noch dankbar." Florian ist von nun an meistens fröhlich, offen. Er lebt sich ein, weiß aber: Hier wird er nicht für immer bleiben. "Das musste ich ihm von Anfang an klar machen", erinnert sich Achim.
Achim hält Schreiattacken aus
Achim hat sich auf Florians heutigen Besuch vorbereitet - seine Lieblingskekse gekauft und Dinge rausgesucht, die er aufbewahrt hat. Eine Postkarte, die Florian von der Klassenreise geschrieben hat: "Ich möchte nach Hause. Ich vermisse euch", steht da in Kinderschrift geschrieben. Wenn er Achim als Bereitschaftspfleger eine Schulnote geben müsste? Dann, sagt Florian, "würde ich sagen: 1+ mit Sternchen." Dabei ist Florian durch seine Gewalterfahrungen oft schwierig, bekommt Schreiattacken. Die hält Achim geduldig aus. Er weiß, dass Florian viele schlimme Erinnerungen plagen. Das sei genau richtig gewesen, sagt Florian heute.
Florian bekommt eine neue Familie
Der Fachdienst Jugend/Soziale Dienste des Kreises Pinneberg hat in der Zwischenzeit eine passende Pflegefamilie für Florian gefunden. Nach zahlreichen Fortbildungen für die Pflegeeltern hat mit Florian über mehrere Wochen eine langsame "Anbahnung" stattgefunden. Er kennt die Familie also schon. Er mag sie, sie mögen ihn. Trotzdem tut er sich schwer mit der Eingewöhnung. Er vermisst Achim. Aber gleich nach seiner Ankunft in der Pflegefamilie fahren alle gemeinsam nach London. "Die haben mich sofort eingespannt, obwohl das ja schon so ein eingespieltes Team war." Liebevoll hätten sie versucht, ihn aufzufangen, ihn zu integrieren - das habe ihm gut getan, sagt Florian.
Routine und Familienalltag - wichtige Bausteine
Wenn Florian und seine drei Pflege-Geschwister zu Besuch kommen, ist es wie früher. Heute harken sie gemeinsam Laub, lachen dabei, haben sich viel zu erzählen. Die Familie hat ein großes Grundstück mit einer Pferdekoppel, wo immer viel Arbeit anfällt. Zum Pflegekind hatte das Amt alle einzeln befragt. Die zweitjüngste Tochter Inga erinnert sich: "Es war von vornherein klar, dass wir es als Familie zusammen machen." Und auch in schwierigen Situationen klappte es: "In den Momenten, wo es ihm nicht gut ging, haben wir einfach zusammen überlegt, was ihm gerade gut tun würde." Die Tiere, die Arbeit, all das habe geholfen, sagt Florian.
Die leiblichen Eltern wollen Florian zurück - und ziehen vor Gericht
Florians leibliche Eltern wollen ihn zurück haben, kämpfen darum sogar vor Gericht. Zwischendurch hat er immer wieder Kontakt zu ihnen. Dann sagt er: "Ich will das nicht mehr." Denn nach jedem Kontakt geht es ihm schlecht. Er bekommt massive Schreiattacken, ist kaum zu bändigen oder bricht kraftlos zusammen. Sein Pflegevater erinnert sich gut daran: "Flo war alleingelassen." Und wer allein gelassen ist, müsse umarmt werden. So dachten er und seine Frau.
"Das ging bei Flo nicht so gut, weil er sich dann bedroht fühlte. Also musst du was zusammen machen, er musste sich bewegen." Deshalb sei er mit ihm auf der Pferdekoppel im Kreis gerannt, Fahrrad gefahren, geritten. "Möglichst viel Power, möglichst viel tun, damit er irgendwann erschöpft ist, aber von der Arbeit und nicht von der inneren Anspannung", erinnert sich der Pflegevater. Und immer, wenn sie nicht weiter wussten, hätten sie beim Fachteam anrufen können.
Zusammenarbeit mit dem Jugendamt klappt super
Jugendamt und Pflegeeltern arbeiten gerade in den ersten Jahren intensiv und gemeinsam daran, für Florian eine gute Lösung zu finden. Dabei ist sein Wille, den Kontakt zu seinen leiblichen Eltern abzubrechen, für alle maßgebend gewesen. Svenja Neumann vom Team Pflegestellen betont: "Pflegefamilien sollen für das Kind da sein. Deswegen werden sie bei Gerichtsverfahren grundsätzlich rausgehalten."
Sie sei aber darauf angewiesen, dass die Pflegeeltern Berichte über das Kind schreiben, oder, wie im Fall von Florian, psychiatrische Gutachten und Einschätzungen von weiteren Ärzten einholen. Damit konnten Svenja Neumann und ihre Kolleginnen vor Gericht belegen, wie schlecht es ihm geht. Mit Erfolg. Eine Richterin urteilt: Florian muss seine Eltern nicht mehr sehen.
Pflegeeltern und Bereitschaftspflege werden überall dringend gesucht
In allen Kreisen und kreisfreien Städten fehlen Bereitschaftspflegestellen und Pflegefamilien. Das hat eine Abfrage von NDR Schleswig-Holstein ergeben. Es müssten doppelt so viele sein, damit die Fachteams passende Pflegestellen für jedes Kind finden können. Denn nicht jede Pflegefamilie nimmt jedes Kind. Gerade die älteren sind oft schwerer zu vermitteln, oder Kinder, die eine seelische, körperliche oder geistige Behinderung haben. Schon längst suchen die Jugendämter nach eigenen Angaben nicht mehr nur heterosexuelle Paare, sondern auch gleichgeschlechtliche oder einzelne Personen.
Der Mangel an Pflegefamilien hat zur Folge, dass viele Kinder in Heimen untergebracht werden müssen, obwohl eine Pflegefamilie besser wäre.
Bei der Pflegefamilie ist Florian zu Hause
Seitdem er ausgezogen ist, lebt Florian nicht mehr in Schleswig-Holstein. Aber so oft er kann, kommt er zu Besuch. Florians Pflegeschwester Inga hat zur Feier des Tages einen Kuchen gebacken. Dazu gibt es Tee oder Kaffee, alle reden durcheinander und lachen viel. So wie immer, wenn sie zusammen sind. Und Florian sagt: "Wenn ich hierher komme, dann komme ich nach Hause."