Lohnfortzahlung ab erstem Krankheitstag: Unternehmen in SH besorgt

Stand: 08.01.2025 13:47 Uhr

Der Krankenstand in Deutschland sorgt bundesweit für Diskussionen. Allianz-Chef Oliver Bäte fordert, die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag zu streichen. Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel hält dagegen - obwohl die Fehlzeiten in SH besonders hoch sind.

von Christian Oechsle

Bereits seit den 1970er-Jahren gibt es in Deutschland keinen Karenztag mehr - also die Regelung, dass Beschäftigte am ersten Krankheitstag keine Lohnfortzahlung bekommen. Nun hat sich Allianz-Chef Bäte im Interview mit dem "Handelsblatt" angesichts des hohen Krankenstands dafür ausgesprochen, den Karenztag wieder einzuführen. Auch der Unternehmensverband Nord meint: "Im Moment läuft in Deutschland und in Schleswig-Holstein einiges aus dem Ruder." Man verzeichne höhere Fehlzeiten als noch zur Corona-Pandemie.

Wenn wir im kompletten Jahr 2025 bei über 20 Fehltagen bleiben, dann werden wir die Diskussion um einen Karenztag - vielleicht sogar auch um bis zu drei Karenztage führen müssen. Michael Thomas Fröhlich, Hauptgeschäftsführer UV Nord

Michael Thomas Fröhlich, Hauptgeschäftsführer der UV Nord. © NDR
Die Gründe für den hohen Krankenstand seien vielfältig, sagte UV-Nord-Chef Fröhlich NDR Schleswig-Holstein. Dazu zählten zum Beispiel auch Infektwellen und Impfmüdigkeit.
Krankenkasse: Fehltage in SH eilen von Rekordhoch zu Rekordhoch

Laut AOK Nordwest waren deren Versicherte bundesweit von Januar bis Ende November 2024 im Schnitt jeweils 21,6 Tage krankgeschrieben. Schleswig-Holstein liegt demnach mit 23,3 Fehltagen deutlich über dem Bundesdurchschnitt - und zum dritten Jahr in Folge auf einem neuen Rekordhoch.

Diesen Befund macht auch die Techniker Krankenkasse in Schleswig-Holstein, auch wenn sich die Zahlen der dort Versicherten auf kleinerem Niveau bewegen. Die TK kommt für den Zeitraum von Januar bis Ende November 2024 bundesweit auf einen Schnitt von 17,7 Fehltagen - in SH sind es demnach 19,7 Tage. Eine Erklärung dafür, warum sich Schleswig-Holsteiner offenbar zwei Tage länger krank melden als Bürger in anderen Ländern, könne man nicht geben, so eine Sprecherin der TK.

"Es gibt eben auch schwarze Schafe", mutmaßt Michael Thomas Fröhlich vom UV Nord - obgleich man sich in Schleswig-Holstein kenne und Betriebe ihre Mitarbeitenden einzuschätzen wissen. Im nördlichsten Bundesland gebe es hauptsächlich kleinere, mittelständische Unternehmen, so Fröhlich weiter, "und für die ist die Entgeltfortzahlung in einem Kleinstbetrieb eine riesige finanzielle Belastung."

IfW: Alter der Beschäftigten verursacht hohen Krankenstand

"Wenn wir diesen hohen Krankenstand nicht hätten, dann wäre unsere Volkswirtschaft nicht in der Rezession" - davon ist Michael Stolpe vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel überzeugt. Dennoch hält er wenig von der Wiedereinführung des Karenztages: Dadurch ergebe sich ein finanzieller Verlust für Beschäftigte. "Und wir wissen eben aus der Forschung: Viele Menschen haben eine starke Verlustaversion." Wer zum Beispiel Raten für ein Haus abbezahlen muss, stehe unter Druck und schleppe sich womöglich krank zur Arbeit, so Stolpe weiter. "Solche Drucksituationen sollte man Menschen nicht so zumuten."

Sein Vorschlag: Unternehmen sollten gesunde Arbeitsbedingungen schaffen und die Gesundheit der Belegschaft fördern. Denn die erwerbstätige Bevölkerung werde immer älter, so der Gesundheitsökonom. Und das sei auch wesentliche Ursache für den konstanten Anstieg des Krankenstands - den man wohlgemerkt bereits seit 20 Jahren in Deutschland verzeichne.

Ein im Bett liegender Mann hält sich mit einer Hand den Kopf, in der anderen ein Smartphone © colourbox
AUDIO: Karenztag einführen? Das sagen Erwerbstätige in SH (1 Min)

Beschäftigte in SH fordern ausgereifte Konzepte gegen Krankenstand

Maria Stasche auf dem Paradeplatz in Rendsburg. Sie äußert sich auf die Frage, ob der erste Krankheitstag künftig nicht mehr vom Arbeitgeber bezahlt werden sollte. © NDR
Man sollte zunächst die Ursachen des hohen Krankenstands ausmachen, bevor man sanktioniere, meint Maria Stasche.

"Der Anstieg der Krankheitstage werde wohl auch mit Unzufriedenheit zu tun haben", schätzt Maria Stasche. NDR Schleswig-Holstein hat in Rendsburg (Kreis Rendsburg-Eckernförde) mit Erwerbstätigen gesprochen. Die Überlegung, den Karenztag wiedereinzuführen, könne Stasche nachvollziehen - doch man sollte zunächst die konkreten Gründe für die hohen Fehlzeiten überprüfen. Diese "Einzelaktionen" seien nicht zu Ende gedacht, findet auch Unternehmer Peter Erdmann. Wenn Deutschland wirtschaftlich wettbewerbsfähig bleiben wolle, müsse man etwas gegen den Krankenstand unternehmen. Doch hierfür brauche man ein Konzept, das von A bis Z durchdacht ist, so Erdmann weiter.

Krankmelden leicht gemacht - Zahlen werden teilweise beeinflusst

Während der Coronapandemie hatte sich die telefonische Krankmeldung bewährt - und um überlaufene Arztpraxen zu entlasten, wurde sie im Winter 2023 wiedereingeführt. Jens Kuschel von der AOK Nordwest begrüßt die telefonische Krankschreibung - insbesondere bei Infektionswellen sei sie ein sinnvolles Instrument. Dass sie für den hohen Krankenstand verantwortlich ist, glaubt er nicht. Wissenschaftliche Auswertungen hätten ergeben, dass die Versicherten verantwortungsvoll mit der einfachen und schnellen Form der Krankschreibung umgehen.

Im Interview mit NDR Schleswig-Holstein zur telefonischen Krankschreibung sagte Jens Lassen vom Hausärzteverband SH, dass vielmehr die elektronische Krankschreibung für den starken Anstieg der Krankmeldungen verantwortlich sei. "Wir übermitteln jetzt über die elektronische Krankschreibung jede, ausnahmslos jede, Krankmeldung an die Kassen." Vorher hätten die Patienten einen gelben Schein in die Hand bekommen, den viele nicht per Post an ihre Arbeitgeber geschickt hätten, wenn sie nur einen oder zwei Tage krank waren. Häufig muss eine Krankmeldung erst ab dem dritten Tag vorgelegt werden. "Deswegen haben die Kassen schlicht und einfach weniger Zeiten gemeldet bekommen", so Lassen.

 

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Eine Gesundheitskarte der AOK liegt auf einer Arbeitunfaehigkeitsbescheinigung. © picture alliance / photothek.de Foto: Florian Gaertner

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Nachrichten für Schleswig-Holstein | 07.01.2025 | 17:00 Uhr

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