Forschung an Uni Lübeck: Warum sterben mehr männliche Babys?
Neugeborene Jungen haben ein höheres Risiko, schwer zu erkranken oder sogar zu sterben, das ist in der Medizin bekannt. Vor allem bei Frühchen sterben vier Prozent mehr Jungen als Mädchen - nur warum?
Seit Jahrzehnten sinkt die Neugeborenensterblichkeit in Deutschland, weil Schwangere, Gebärende und Säuglinge immer besser medizinisch versorgt werden können. Doch Ärztinnen und Ärzte beobachten weiterhin: Neugeborene Jungen sind anfälliger für schwerwiegende Komplikationen und Infektionen. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern ist gerade bei Frühgeburten besonders groß - nur warum?
Neugeborene Jungen sterben häufiger - warum ist ihr Sterberisiko höher?
"Wir vermuten, dass das an den Hormonspiegeln der Kinder liegt", erklärt Wolfgang Göpel vom UKSH Lübeck. Nach der Geburt schütten Babys das erste Mal selbst Hormone aus: Jungen sehr viel Testosteron, Mädchen sehr viel Östrogen - sie durchleben eine sogenannte "Minipubertät". Das Team der Uni Lübeck untersucht in seiner Neonatologie-Forschung einen Zusammenhang zwischen dem Hormonspiegel und Gesundheitsrisiken. Mit seinem Team untersucht Göpel seit Oktober 2024 dafür Blutproben von Neugeborenen, um den Hormonhaushalt von Frühgeborenen besser zu verstehen. Insgesamt 1.000 solcher Proben wollen sie sammeln und sich den Hormonspiegel genau anschauen.
Genetischer Score: Forscher analysieren Millionen DNA-Daten von Säuglingen
Um wirklich haltbare Ergebnisse zu bekommen, brauchen die Forschenden aber noch viel mehr Daten. Daher arbeiten die Mediziner bei diesem Projekt eng mit Statistikern zusammen. Die errechnen aus den Blutwerten einen sogenannten genetischen Score: Eine Art Abbild auf einer festen Skala. "Das heißt also, dass wir mehrere Millionen Daten pro Kind erfassen und bei jeder dieser genetischen Varianten versuchen herauszufinden, wie stark der Zusammenhang mit dem Hormonspiegel ist", erklärt die Statistikerin Inke König, die zusammen mit Göpel das Projekt leitet.

Der Vorteil: Mithilfe dieser Scores können sie dann aus bereits vorhandenen DNA-Daten von rund 25.000 Kindern noch im Nachhinein den Hormonspiegel kurz nach der Geburt bestimmen und untersuchen. "Bei diesen vielen Kindern in den ersten Lebenstagen Blut abnehmen, das ginge gar nicht. Aber durch diesen Trick können wir unseren Datensatz sehr stark vergrößern und dadurch dann auch sogar Langzeitdaten mitanalysieren", so Göpel.
Kann ein Medikament das Sterberisiko von Frühchen senken?
Dabei gehen sie in ihrer Forschung nicht vom binären Geschlechtersystem aus, sondern berücksichtigen alle Varianten der Geschlechtsentwicklung. "Wir wollen nicht einfach nur hinnehmen, dass es eben Jungs oder Mädchen sind, sondern wir wollen dem auf die Spur kommen, woran das eigentlich liegt", erläutert König. "Es ist viel geschickter, wenn wir auch die Hormonspiegel selbst messen und gucken, wie stark der Zusammenhang mit der Mortalität ist." Das Ziel des Projekts: Die Sterberate von allen Frühgeborenen senken.
"Stellen Sie sich vor, wir finden vielleicht, dass bestimmte Hormonspiegel mit einer niedrigeren Todesrate einhergehen. Dann kann man mit spezifischen Medikamenten, die es bereits gibt, bei den Frühgeborenen kurz vor oder nach der Geburt versuchen, die Hormonspiegel optimal einzustellen." In zwei bis drei Jahren wollen Göpel und König mit ihrem Team ihre Ergebnisse dazu präsentieren.
"Wenn man das so hinnimmt und sagt 'ja, das ist halt Junge und Mädchen' und dann nicht weiter nachdenkt, dann sitzt man eigentlich schon in der Falle. Wir fassen in unserem Projekt das Geschlecht ja als eine kontinuierliche Variable auf." Prof. Wolfgang Göpel, UKSH Lübeck
"Sexdiversity": Forschungsteam denkt das Geschlecht neu
Ihr Projekt ist Teil des Sonderforschungsbereichs "Sexdiversity" der Uni Lübeck. Seit fast einem Jahr forschen rund 50 Expertinnen und Experten aus verschiedenen Fachbereichen von Biologie über Medizin bis zu Philosophie gemeinsam über die Vielfalt des Geschlechts. Ihr Ziel: Sie wollen Geschlecht neu definieren, Wissenslücken schließen und bessere Voraussetzungen für medizinische Behandlungen schaffen. Bis 2027 wird der Sonderforschungsbereich "Sexdiversity" noch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit rund 10 Millionen Euro gefördert.
