Antisemitismus in SH: Neuer Höchststand an Vorfällen
Mehr als zweimal pro Woche wurden im vergangenen Jahr Menschen mit jüdischem Glauben in Schleswig-Holstein bedroht, wie aktuelle Zahlen der landesweiten Informations- und Dokumentationsstelle für Antisemitismus in Schleswig-Holstein (LIDA) zeigen.
Ob antisemitische Beleidigungen, Bedrohungen, Sachbeschädigungen, israelfeindliche Propaganda oder Social-Media-Kampagnen: Mehr als ein halbes Jahr nach dem Angriff der radikal-islamistischen Hamas auf Israel ist die Zahl der antisemitischen Vorfälle im Land so hoch wie noch nie. 2023 wurden 120 antisemitische Delikte verzeichnet. Zum Vergleich: Im Jahr zuvor waren es 79 Vorfälle, die die Informations- und Dokumentationsstelle für Antisemitismus in Schleswig-Holstein (LIDA) erfasst hatte.
Dunkelfeld deutlich größer
Das tatsächliche Ausmaß antisemitischer Vorfälle dürfte jedoch noch deutlich größer sein als die absoluten Zahlen der Auswertung, heißt es. Es gebe ein immenses Dunkelfeld, erklärt Joshua Vogel, Leiter der unabhängigen Meldestelle. "Die Gefährdungslage für unsere Gemeinden nimmt zu", so Vogel. Auch werden viele der gemeldeten Vorfälle nicht zur Anzeige gebracht. Besonders häufig sind sich Betroffene nicht sicher, ob das Erlebte überhaupt strafbar ist. Zudem hält immer wieder auch ein fehlendes Vertrauen zu oder vorangegangene schlechte Erfahrungen mit Ermittlungsbehörden Meldende von einer Anzeige ab, heißt es.
Bei dem Blick auf die Zahlen in den Kreisen fällt auf, dass im Vergleich zum Vorjahr nahezu jeder Kreis betroffen ist. Während im Kreis Steinburg 2023 keine Delikte gemeldet wurden, verzeichnete der Kreis Rendsburg-Eckernförde im vergangenen Jahr 20 Vorfälle. Spitzenreiter ist Kiel mit 49 Vorfällen. Auch an Schulen und Hochschulen steigt die Zahl der gemeldeten Vorfälle. "Ein Großteil dieser dokumentierten Vorfälle sind antisemitische Beleidigungen oder Aussagen sowie das Verbreiten von israelfeindlichem Propagandamaterial", so Vogel.
Mehr Angriffe gegen Einzelpersonen oder Institutionen
Laut LIDA-SH sei diese Entwicklung ein "Ausdruck des gesamtgesellschaftlichen Klimas, in dem gezielt Bedrohungen oder Sachbeschädigungen ermöglicht werden", heißt es in der Auswertung. Die Zahl der Vorfälle, die sich direkt gegen Einzelpersonen oder Institutionen richteten, sei um 34 Prozent gestiegen.
Warum die Vorfälle steigen
Joshua Vogel sieht mehrere Gründe für den Anstieg der dokumentierten Vorfälle. Es sei wahrscheinlicher geworden, dass sich Menschen israelfeindlich äußern. "Dieser Antisemitismus in seiner Projektion auf den Staat Israel als "kollektiver" Jude ist unserer Erfahrung nach besonders anschlussfähig für viele Milieus und Szenen und wird - im Gegensatz zur Verharmlosung des Holocausts - seltener als antisemitisch erkannt und problematisiert", so Vogel gegenüber NDR Schleswig-Holstein
Auch der Hamas-Angriff auf Israel habe die Zahlen beeinflusst. Immer dann, wenn viel über Antisemitismus gesprochen werde, werden Zusammenhänge sichtbar, so Vogel. "Die Leute sind dann eher in der Lage Antisemitismus zu erkennen und diese Vorfälle zu melden." Seit dem Angriff der radikal-islamistischen Hamas haben Beschimpfungen wie "Du Jude", "scheiß Zionist" zugenommen.
Antisemitismus präge den Alltag
Die Menschen mit jüdischem Glauben spüren die Folgen täglich. "Antisemitismus ist für sie oft ein alltagsprägendes Phänomen, das ihnen im Sport, im ÖPNV, auf der Arbeit, sogar im direkten Wohnumfeld widerfahren kann", so Vogel.
Die Gesellschaft nehme die Bedrohung kaum war. "Seit Jahren weisen wir darauf hin, dass Antisemitismus für uns unerträglich wird", sagt Viktoria Ladyshenski, Geschäftsführerin der Jüdischen Gemeinschaft Schleswig-Holstein. "Wir wünschen uns, dass Antisemitismus als gesamtgesellschaftliches Problem angegangen wird, dass die schweigende Mehrheit wach wird und klar Position gegen Antisemitismus und Judenhass in Deutschland bezieht."
"Jüdinnen und Juden haben wieder Angst ihre Identität zu zeigen"
Der Beauftragte für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus des Landes Schleswig-Holstein, Gerhard Ulrich, ist alarmiert. "85 Jahre nach der Reichspogromnacht haben Jüdinnen und Juden wieder Angst, sich mit ihrer jüdischen Identität zu zeigen", sagte Ulrich NDR Schleswig-Holstein. Das werfe die Bemühungen zurück, Jüdisches Leben in Schleswig-Holstein in der Mitte der Gesellschaft zu etablieren. Antisemitismus bedrohe die Demokratie, so Ulrich.
Aber es gebe auch gute Beispiele im Land. Gerhard Ulrich lobt den Runden Tisch "SHalom&Moin" im Landtag sowie eine Arbeitsgruppe zur Entwicklung eines Landesaktionsplans gegen Antisemitismus. So werde das jüdische Leben sichtbarer. "Ihre Arbeit ist seit dem 7. Oktober wichtiger denn je", so Ulrich.
Innenministerium: "Jede Tat wird einzeln geahndet"
Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) ist besorgt. Sie beobachte in ganz Deutschland, dass derartige Taten zunehmen. "Wir haben sehr viele Täter aus dem rechten Spektrum. Der Hass gegen Jüdinnen und Juden sitzt offensichtlich sehr tief, sodass man das nicht so ganz verallgemeinern kann", so die Innenministerin.
Sütterlin-Waack will das jüdische Leben in Schleswig-Holstein besser schützen. "Wir haben als Polizei auch immer die jüdischen Einrichtungen im Auge und schützen sie so gut wir können. Wenn uns gesagt wird, es stehen besondere Veranstaltungen an oder es ist eine besondere Gefahr zu erkennen, dann schützt die Polizei nochmal mehr." Jede Tat werde verfolgt und einzeln geahndet, so die Innenministerin.
Viktoria Ladyschenski beobachtet: Das Jüdische Leben wird unsichtbarer. Viele würden in der Öffentlichkeit keine Kippa tragen, die Angst sei groß.